(Gedanken-) Splitter

Anmerkungen zu einzelnen Diskussionsthemen


Das Problem der "Namengebung":

Die Namen der einzelnen Romanfiguren waren ein erstes heißes Diskussionsthema  zwischen der Autorin und ihren "Mitarbeitern". 

Hierzu ist zu sagen: Der Verlag überprüft die statistischen Erhebungen über die beliebtesten Vornamen im Geburtsjahr der (fiktiven) Romanfiguren. Unter Berücksichtigung des erwarteten Leserkreises werden dann unter Umständen die Romanfiguren nach den jeweiligen "Spitzenreitern" durch den Verlag umbenannt.

 

Ist *anna tatsächlich *anna, und ist Lechajm wirklich Lechajm?

Anna und Lechajm sind Personen im Roman, sie sind aber auch tatsächlich existierende Personen, beispielsweise trifft man sie im Chat. Stellen diese Romanfiguren somit *anna und Lechajm dar wie sie real existieren?

Ein Roman ist ein vom Autor ausgedachter (also fiktiver) Text. Auch die dort auftretenden Personen sind „erfundene“ Personen, selbst bei Namensgleichheit mit real existierenden Menschen. Natürlich können zufällige oder auch bewusst gewählte Bezüge zu tatsächlich lebenden namensgleichen Personen gegeben sein: Eine direkte Darstellung einzelner Wesenszüge, ironische Verkehrungen ins Gegenteil, Anspielungen und anderes sind dabei zwar möglich, dies steht aber nicht im Vordergrund. Eine Romanfigur darf nicht unbesehen als Abbild einer tatsächlich lebenden Person verstanden werden.

 

Romanfiguren entstehen

Mit der Grobplanung der Handlung ergeben sich die Hauptpersonen in ihren grundsätzlichen Zügen. Daneben steht die Überlegung, welche weiteren Personen für die Handlung benötigt werden oder einfach in den Geschehensablauf passen würden. Bei der physischen und psychischen Ausstattung der konkreten einzelnen Romanfigur können dann die verschiedensten Elemente einfließen: tatsächliche Wesenszüge der eigenen Person - wie man gerne sein würde - wie man überhaupt nicht sein wollte - wie man selbst denkt und empfindet - ... Personen der eigenen Umgebung können ebenfalls in diesem Sinne "Vorbild" sein. Aktuelle Augenblickserfahrungen können genau so Anregungen für die Gestaltung bieten wie beispielsweise ein Foto der eigenen Oma aus deren Jugendzeit und vieles andere mehr. So ergibt sich schließlich die "synthetische" Romanfigur als eine fiktive Gestalt, die auch im Lauf des Schreibvorgangs noch "Wesensveränderungen" erfahren kann.

 

Am Anfang steht die Idee

- und dieser Anfang ist wunderbar. Er ist wie ein Tagtraum, federleicht und schwebend. Aber er ist eben nur ein Traum. Wenn er Realität werden soll, muss er Bodenhaftung gewinnen.
Zwar pflegen die meisten AutorenInnen das Bild des Künstlers, der „sein“ Thema findet, davon beherrscht wird, in einem fast zwanghaften Schreibimpuls damit ringt und sich schließlich schreibend davon befreit. Das mag es geben. Die Regel ist es nach meiner Erfahrung sicher nicht.
„Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Buch?“ ist eine der todsicher gestellten Fragen nach jeder Lesung. Ich kann sie nicht beantworten. Es scheint mir, dass bestimmte Themen in der Luft liegen und wir sie unbewusst aufnehmen. Vielleicht lässt es sich vergleichen mit der Namenswahl der Eltern. Ich vermute, dass die meisten Paare glauben, eine eigenständige, originelle Entscheidung getroffen zu haben. Aber die Statistik zeigt unbarmherzig, dass Kevin, Laura, Felix, Marie oder Anna einfach im Trend lagen.
Ich denke, so ähnlich ist es auch mit dem Thema unseres gemeinsamen Projekts. Mich hat das Gelingen und (mehr noch) das Scheitern zwischenmenschlicher Verständigung schon immer fasziniert, aber dass der Schwerpunkt des Buchs auf der Kommunikation im Medium „Internet“ liegt, ist sicher kein Zufall.

 

Und dann fließt der Text einfach aus der Feder?

Schön wär’s ja!
Am Anfang gibt es eine grobe Handlungsskizze. Aber wie - ganz konkret - geschieht die Umsetzung in den Text? Steht am Anfang ein Plan, eine Gliederung, eine Struktur? Schreibt man auf einen feststehenden Schluss hin oder bleibt das Ende offen? Soll es eine Ich-Erzählung sein, installiert man einen allwissenden Autor, wird aus der Rückschau erzählt oder wählt man eine Mischung verschiedener Erzählformen? Werden zuerst die Figuren entwickelt oder treten sie je nach Bedarf auf? Mir scheinen alle Möglichkeiten gleichberechtigt. Nur eine Vorbedingung halte ich für unverzichtbar: Die Entscheidung für die Hauptfigur.
Es gibt Geschichten, die entwickeln sich aus dem ersten Satz. In einem meiner Bücher heißt dieser Satz: „Hannah ist tot.“ Als ich ihn schrieb, hatte ich noch keine Ahnung, wie und vor allem warum sie gestorben war. Ich wusste es bis zum letzten Kapitel nicht. Die Erzählung schien sich wie von selbst fortzuschreiben.
Dann gibt es Texte, die in eine konkrete historische Situation eingebettet sind. Sie haben den Vorteil, dass es ein festes Gitterwerk von Zeitabläufen gibt, in das die fiktiven Personen und ihre persönlichen Schicksale eingeflochten werden können.
In unserem Projekt haben wir damit begonnen, als erstes die Figurenprofile festzulegen. Das ist eine wesentliche Hilfe, denn Personen mit möglichst genau beschriebenen sozialen Bedingungen, Erfahrungen, Eigenarten und Vorlieben werden in bestimmten Situationen fast vorhersehbar handeln. Aber eben nur fast!
Als Struktur bot sich mir das Bild des (Inter)Netzes an. Dazu habe ich in einer Skizze die Hauptfigur der Anna und das sie umgebende Personal durch strahlenförmige Linien verbunden. Die Kontakte der Nebenfiguren untereinander sind ebenfalls durch Linien markiert. In das so entstandene Netz können wir weitere Personen einbringen. Einige Fäden sind mehrfach verknüpft, andere hängen lose ... so ist es in der Realität und erst recht in der Virtualität des chats.
Und jetzt kommt die Arbeit. Das ist wie bei jedem anderen Handwerk auch: Es gibt Zeiten, da gelingt alles, und es gibt welche, da klappt nichts. Gearbeitet werden muss trotzdem. Zu festen Zeiten und an einem festen Platz. 
Auf den Kuss der Musen ist nach meiner Erfahrung kein rechter Verlass - wahrscheinlich bevorzugen diese Damen einfach Männer. *fg

 

Annemarie Frederes - ihre Persönlichkeitsstruktur

Annemarie Frederes hat erhebliche psychische Probleme. Sie leidet unter einer so genannten bipolaren Störung. Das ist eine Erkrankung, bei der sich Zeiten tiefer Niedergeschlagenheit abwechseln mit Phasen übersteigerter Aktivität. In den depressiven Zeiten ist Annemarie antriebsschwach und freudlos, sie schläft sehr viel, auch am Tage, hat kaum Appetit, kann sich nicht zur Arbeit zwingen, vernachlässigt ihre Wohnung und sich selbst. Die manische Phase beginnt mit einer angenehmen Hochstimmung. Dann macht sie Pläne, gibt Geld für unsinnige Anschaffungen aus, schließt rasche flüchtige Bekanntschaften. Ihre innere Unruhe steigert sich, der Tag- und Nachtrhythmus gerät aus dem Gleichgewicht, sie kann nicht mehr schlafen. Es kann zu Wahnvorstellungen kommen, die in der Klinik behandelt werden müssen. Annemarie Frederes ist in ärztlicher Behandlung. Sie und ihre Tochter Anna kennen die Vorzeichen der wechselnden Phasen und verfügen über die notwendigen Medikamente. Eine zu hohe Dosierung beruhigender Medikamente kann zu Empfindungslosigkeit, zu roboterhaften Bewegungsabläufen und Automatenstimme führen. Ihre Krankheit ist für alle mit großen Belastungen verbunden.

 

Autor und Verlag

Bei einigen Chats wurde die Rolle der Verlage kritisch angefragt. Ihr Einfluss auf Umfang, grafische Gestaltung, Klappentext, Cover usw. erschien als unangemessen groß. Um es ehrlich zu sagen: Über all dies habe ich mich auch schon geärgert, wie es jeder tut, der schreibt.
Aber: Ein Verlag ist ein Wirtschaftsunternehmen. Er muss Geld verdienen, um das Geschäft des Büchermachens überhaupt betreiben zu können. Er muss Mitarbeiter einstellen und entlohnen. Und diese Mitarbeiter sind Fachleute: Lektoren, Grafiker, Vertriebs-, Werbe- und Pressefachleute usw.. Sie beobachten den Markt, erkennen Trends und passen ihre Produktion daran an. AutorInnen haben die Möglichkeit, für die Schublade zu schreiben, ihr Werk selbst herauszugeben, es in ihrem Arbeitszimmer zu stapeln und es stückweise bei den örtlichen Buchhandlungen anzupreisen (ich kenne solche KollegInnen) oder die professionellen Dienste eines Verlags in Anspruch zu nehmen - zu seinen Bedingungen. Der Verlag übernimmt dann das alleinige finanzielle Risiko. Er lässt das Manuskript lesen und korrigieren, er beauftragt einen Grafiker, erwirbt Rechte für ein als Titel verwendetes Bild, lässt das Buch drucken und binden und übernimmt den Vertrieb. Und wenn das Buch nicht verkäuflich ist, ist es der Verlag, der dabei Geld verliert. Das muss man bei aller berechtigten Kritik fairer Weise berücksichtigen.

 

Modell-Leser und empirischer Leser 

Jede Art von Text ist auf einen gedachten Leser hin geschrieben. Das gilt für ein Märchen, für eine Gebrauchsanweisung und für einen Roman in gleicher Weise. Der Schreiber versetzt sich in die Figur seines künftigen Lesers, stattet ihn mit den erwünschten Fähigkeiten aus und formt so seinen Modell-Leser.
Bei einer märchenhaften Erzählung z.B. denkt er sich seinen Leser so jung oder so kindlich-phantasiebegabt, dass er Anfänge akzeptiert wie: „Es war einmal ein Königssohn, der hatte Eselsohren .....“

Der Schreiber einer Gebrauchsanweisung zum Aufbau eines Ikea-Schranks muss sich darüber klar werden, wie viel technisches Verständnis er bei seinem Leser und vermuteten Benutzer dieses Möbelstücks voraussetzen kann.
Ein Romancier erwartet mit Recht einen Leser, der bereit ist, mit ihm in den „Wald der Fiktion“ einzutreten, darin mit Muße herum zu wandern, sich bewusst auf die „Lüge“ der Geschichte einzulassen und dennoch das angebotene Phantasiespiel ernsthaft mitzuspielen.
Dieser Modell-Leser ist eine pflegeleichte Figur. Er ist exakt so, wie der Autor ihn sich wünscht. Es bleibt ihm ja keine Chance zur Gegenwehr. James Joyce beispielsweise wünschte und erdachte sich einen „idealen Leser, der an einer idealen Schlaflosigkeit leidet“. 
Der empirische Leser dagegen ist höchst kompliziert und nicht kalkulierbar. Er bringt in die Handlung seine eigenen Stimmungen ein, seine gute Laune oder seine Niedergeschlagenheit. Er nimmt Anteil an den Figuren, verfolgt ihr Schicksal, wünscht sich eine gerechte Strafe oder eine glückliche Wendung oder kann sich mit ihrem Tod nicht abfinden. Als Karl May Winnetou sterben ließ, waren seine Leser so verzweifelt, dass sie die Auferstehung des Apatschen forderten. 
Selbstverständlich ist der empirische Leser berechtigt, den Text so zu lesen, wie es ihm passt. Er kann ihn benutzen, um seine eigenen Gefühle darin zu finden, seine Wünsche und Phantasien darin auszuleben, eine der angebotenen Rollen selbst einzunehmen und sich ein Happy-end zu erträumen. 
Nur eines darf der empirische Leser nicht: Er darf nicht erwarten, dass der Autor statt seines Modell-Leser ihn selbst im Blick hatte, als er seinen Text schrieb. 

       

nach oben

zurück zu:

Startseite SchäferStündchen            Titelseite *Anna