Gewaltverzicht und Entfeindung

Mose Rechtssatz
(Tat - Sanktion)
Jesus Rechtssatz
(Tat - Sanktion)

Mt 5:21 Ihr habt gehört,
dass zu den Alten gesagt worden ist:

Du sollst nicht töten;
wer aber jemand tötet,
soll dem Gericht verfallen sein.

5:22 Ich aber sage euch:

Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt,
soll dem Gericht verfallen sein;

und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!,
soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein;

wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!,
soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.

©1980 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

Jesus nimmt Bezug auf einen (kasuistischen) Rechtssatz (Ein bestimmtes verwerfliches Tun -Tötung- hat eine bestimmte Sanktion -Gerichtsverfahren- zur Folge.), der auf Mose, den Gesetzgeber Israels zurückgeführt wird. Dem stellt er in pointierter Weise ebenfalls formale Rechtssätze gegenüber, die er in seiner eigenen Person begründet. Diese eher provokative Gegenüberstellung ("Mose" - "ich") wird noch dadurch gesteigert, dass bei den (ebenfalls sich steigernden drei) Beispielen Jesu im Vergleich zum Rechtssatz der Tradition bei einer weitaus geringeren Tat je eine größere Strafe folgt. Jesus stellt sich mit seiner Aussage jedoch nicht in Gegensatz zum mosaischen Gesetz, sondern will dadurch, dass er die Forderungen der Tora geradezu provokativ übersteigert und radikalisiert, auf das Wesentliche hinweisen.

Schon die Kombination (formaler) "Rechtssatz" - "Provokation" macht deutlich, dass Jesus kein neues Gesetz formulieren möchte. Denn Provokation und Rechtssatz schließen sich aus. Jesus will vielmehr deutlich machen: Die Grundeinstellung zum Mitmenschen ist wichtig, nicht die Schwere der Tat.

 

 

Mt 5:23 Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 5:24 so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe.

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Die provokative Kontroverse: "Gottesdienst oder Versöhnung" räumt der Versöhnung mit dem Mitmenschen Priorität ein gegenüber der kultischen Handlung. Auch hierbei steht Jesus nicht im Gegensatz zu alttestamentlichen Aussagen. Im Buch Hosea z. B. heißt es: "Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer." (Hos 6,6)

 

 

Mt 5:25 Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen, und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben, und du wirst ins Gefängnis geworfen. 5:26 Amen, das sage ich dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast."

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Am Beispiel eines vor der zuständigen Instanz, dem Gericht, Recht suchenden Menschen macht Jesus deutlich: Einige dich in Frieden mit deinem Mitmenschen möglichst schnell, bevor du mit Nachteilen zur Einigung gezwungen wirst.

 

 

Mose

Rechtssatz

Jesus

Rechtssatz

Mt 5:38 Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist:

Auge für Auge und Zahn für Zahn.

5:39 Ich aber sage euch:

Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern

wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.

5:40 Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel.

5:41 Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.

5:42 Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab.

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Wiederum bezieht sich Jesus auf die Autorität des Mose und der Tora und spitzt, das Gebot der Tora radikalisierend, in pointierter Weise seine Aussage zu. In Ex 21,23f, worauf Jesus Bezug nimmt, ist festgelegt für den Fall, wenn Männer in Streit geraten und miteinander raufen und dabei Schaden entsteht, dass als Schadensersatz zu geben ist "Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme." Nicht vom Geschädigten ist hier die Rede, der Rache oder Vergeltung nehmen soll, sondern vom Schädiger, der einerseits Wiedergutmachung und Schadensersatz leisten muss, indem er dem Geschädigten etwas gibt, das an die Stelle des angerichteten Schadens tritt und diesen ersetzt. Das Verlangen nach Vergeltung andererseits wurde damit aber auch auf das Ausmaß des erlittenen Schadens begrenzt. Das alttestamentliche Talionprinzip schränkt damit die Maßlosigkeit der Schadensersatzforderung oder gar der Rache ein. Jesus fordert nunmehr anstelle der Abgeltung mit Gleichem die Entfeindung:

Ein Schlag auf die rechte Backe kann (durch einen Rechtshänder) nicht mit der Handfläche, sondern nur mit dem Handrücken erfolgen. Ein solcher Schlag ist zwar weniger schmerzhaft, er beinhaltet jedoch die Geste der Verachtung und der Demütigung. Im Talmudtraktat über Körperverletzungen war demnach auch bestimmt: "Wenn jemand seinem Nachbarn eine Ohrfeige gibt (...), so zahlt er ihm vor dem Richter 200 Sus als Wiedergutmachung. ... Geschah es aber mit verkehrter Hand, also mit dem Handrücken, so zahlt er ihm 400 Sus."

 

Jesus will seine Forderung nicht wörtlich verstanden wissen. Als ihn ein Diener des Hohenpriesters bei seinem Verhör ins Gesicht schlägt, empört er sich: "Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?" (Joh 18,23). Jesus meint vielmehr: Beschäme deinen Nächsten, wenn er dich als Bruder und Mitmensch so demütigend behandelt. 

 

Nach dem jüdischen Gesetz durfte von einem Schuldner der Mantel lediglich bis zum Einbruch der Nacht gepfändet werden. Der Mantel diente nämlich während der Nacht, die empfindlich kalt sein konnte, als Zudecke. Diese Pfändungsgrenze sollte sicher stellen, dass auch einem Schuldner das zum Überleben Notwendigste verblieb. "Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen?" (Ex 22,25; vgl. auch Dtn 24,10-13)

 

Jesus meint: Wer dich als Bruder und Mitmensch in ein Gerichtsverfahren verwickelt, anstatt die Angelegenheit mit dir selbst friedlich und mitmenschlich zu lösen, dem gib über seine Forderung hinaus noch das Existenzminimum, das er rechtmäßig von dir gar nicht fordern kann, um ihn zu entfeinden und zu versöhnen.

 

Jeder römische Legionär konnte einen Juden, selbst Mitglieder des Hohen Rats, zwingen, ihn auf seinem Weg zu begleiten und ihm das Gepäck zu tragen. Die Wegstrecke war dabei begrenzt auf höchstens eine Meile. Diese Möglichkeit, von der römischen Besatzungsmacht als Lasttier missbraucht zu werden, haben die Juden als äußerst demütigend empfunden.

 

Jesus meint: Wenn dich jemand so behandelt, beschäme ihn. Mache aus dem Frondienst einen Liebesdienst und gehe mit ihm freiwillig die doppelte Strecke.

 

Jesus ist überzeugt, dass der Mensch die Welt verändern kann. Er fordert deshalb ein Verhalten, das zur Entfeindung beiträgt.

Wenn dich einer ausnützen will (Frondienst für die Römer),

wenn dich einer entwürdigen will (Schlag auf die rechte Wange)

wenn dich einer in deiner Existenz gefährdet (Pfändung),

unternimm den ersten Schritt, um den Teufelskreis der Feindseligkeit und Unmenschlichkeit zu durchbrechen. Gefordert wird von Jesus hierbei nicht Sympathie, Machtverzicht oder gar ein Gefühl der Liebe. Gefordert wird von Jesus, das Feindbild zu durchbrechen.

 

 

Mose

Norm

Jesus

Norm

Mt 5:43 Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 5:44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, 5:45 damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 5:46 Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? 5:47 Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? 5:48 Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.

©1980 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

Jesus nimmt mit der Einleitungsformel: "Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist" ausdrücklich wieder Bezug auf die Tora, nämlich auf Lev 19,18: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.", wobei Mattäus den Abschluss des Levitikus - Textes weglässt. Der zweite Teil des Zitats mit dem angeblich gebotenen Feindeshass kann nicht auf Jesus zurückgehen. Es gibt im Judentum nämlich kein Gesetz, das den Feindeshass verordnet, weder im AT noch in der rabbinischen Literatur. Ganz im Gegenteil. Gemäß der alttestamentlichen Fassung des Gebots der Nächstenliebe (Lev 19,17.18) zum Beispiel soll der (zum Volk gehörende) Nächste "nicht bedrückt noch beraubt" (Lev 19,13), sondern geliebt werden. Er gehört zur "Verwandtschaft Jahwes", deshalb hat er Wohlwollen verdient. Für den Fall, dass sich ein Volksgenosse doch einmal gegen einen anderen vergeht, soll er zurechtgewiesen werden; aber Zorn und Rache sollen innerhalb der "Verwandtschaft Jahwes" keinen Platz haben. 
Die Wörter "hassen" und "lieben" als Kontrastpaar gebraucht sind daneben im Hebräischen nicht wörtlich zu verstehen, sondern bedeuten im Allgemeinen "hintansetzen, weniger lieben, gering schätzen" bzw. "bevorzugen, Vorliebe haben für".
Mattäus formuliert hier provokativ einen Gegensatz, um die Radikalisierung der Forderung Jesu noch zu steigern. Der Kreis der zu Liebenden wird nun auch auf jene Personen ausgedehnt, die nicht zur "Verwandtschaft Jahwes" gehören; ja selbst diejenigen, die ihr feindlich gegenüber stehen, auch dezidierte Feinde, die auf Vernichtung sinnen, soll man lieben. Dass mit "Feind" nicht (nur) der persönliche, private Feind gemeint ist, wird sowohl bei Mattäus als auch bei Lukas durch den Kontext deutlich: Vorausgesetzt ist jeweils die Situation des Gehasstwerdens, des Verfluchtwerdens; konkret ist also wohl an die römische Besatzungsmacht und speziell an die Christenverfolger unter Juden und Römern gedacht.

Mit dem Verlangen nach Feindesliebe zielt Jesus nicht auf Gefühle der Zuneigung, er fordert auch nicht totale Selbsthingabe an den Feind. Liebe kann schon gar nicht befohlen werden. Jesus fordert vielmehr Liebestaten, eine Tatenliebe, die zur Entfeindung führt. Dieses Tun des Menschen bewirkt, dass er "Sohn Gottes" wird. Auf Gewalt soll nicht mit Gegengewalt geantwortet werden. Man muss sich jedoch fremder Gewalt auch nicht hilflos ausliefern. Gewaltlosigkeit und Feindesliebe im Sinne Jesu bedeutet also nicht ein schlichtes Nachgeben und naives Vertrauen auf die Einsicht des Gegenüber, sondern stellt ein Konzept der Auseinandersetzung dar, bei dem man sich nicht auf die Art der Auseinandersetzung einlässt, wie sie der "Feind" vorgibt, also eben nicht Gleiches mit Gleichem vergilt, sondern die Auseinandersetzung gewaltlos und getragen vom Geist der Liebe führt. Die Forderung nach Gerechtigkeit bleibt dabei genau so bestehen wie die Bereitschaft, gegen eine ungerechte Sache einzutreten. Jesu Ziel ist, die Gewalt durch unvermutete Akte der Entfeindung zu überwinden. Seine Absicht dabei ist, den ersten Schritt zum Abbau der Feindschaft zu tun.

Die Idee des Gewaltverzichts ist keine Erfindung Jesu. Es gibt gerade aus der Zeit Jesu und aus jenem Raum ganz deutliche Analogien: Als Pilatus (26 n. Chr.) durch das Aufstellen von Kaiserbildern ("Götzenbildern") in Jerusalem die jüdische Bevölkerung provoziert hatte, kam es zu einer Konfrontation, in der Pilatus die demonstrierenden Juden von Soldaten umringen ließ. "Die Juden aber warfen sich wie auf Verabredung hin dichtgedrängt auf den Boden, boten ihre Nacken dar und schrien, sie seien eher bereit zu sterben, als dass sie die väterlichen Gesetze überträten." Der gewaltlose Widerstand der Juden war erfolgreich: Die Kaiserbilder wurden wieder aus Jerusalem entfernt. Jesu Wort von der Feindesliebe wurde einige Jahre später gesprochen und konnte also von den Hörern im Kontext der vorangegangenen Ereignisse als ein keineswegs unsinniges Wort, sondern als sinnvoller Aufruf zu einer durchaus erfolgversprechenden Verhaltensstrategie verstanden werden.

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