Im Gegensatz zur früheren katholischen Deutung geht die lutherische mit Recht von der Einsicht aus, dass die radikale Forderung Jesu für alle Christen gelte. Sie wird nach dem „usus elenchticus legis“, d.h. nach dem die Sünde aufdeckenden Amt des Gesetzes aufgefasst. Die Bergpredigt treibt in die Buße; sie ist ein einziger Bußruf und Beichtspiegel. Der Mensch wird seiner sündigen Ohnmacht zum Guten überführt. Das Gebot der Bergpredigt gilt als unerfüllbar. Mit Luthers eigener Interpretation der Bergpredigt ist die skizzierte Auffassung der lutherischen Orthodoxie nicht einfach gleichzusetzen (s.u.). Noch 1925 hat der lutherische Dogmatiker Carl Stange im wesentlichen diese Auffassung vertreten. Die Bergpredigt darf, das ist die entscheidende Intention dieser Deutung, nicht zum Gesetz und Christus nicht zum „zweiten Moses“ gemacht werden. In Christus selbst und in ihm allein ist die absolute Forderung der Bergrede stellvertretend für alle erfüllt.
Diese Intention ist durchaus berechtigt. Andererseits aber ist doch völlig verkannt, dass die Bergrede in 5,13 ff. 21 ff; 6,1 ff; 7,1 ff usw. bis zum Schluss überall ein Tun, gute Werke, Taten der Liebe, faktische Erfüllung des Willens Gottes verlangt, und zwar von den Jüngern. Nirgends ziehen sich die Texte darauf zurück, dass die Bergpredigt allein von Christus erfüllt würde, an unserer Statt. Ganz im Gegenteil: in der Bergpredigt steht Jesus (von 5,3 – 12 abgesehen) durchaus und eindeutig als der Fordernde und Gebietende vor uns. Gewiss deckt die Bergpredigt auf, wer wir sind (vgl. besonders 5,21 ff); doch sie fordert aus der neuen eschatologischen Situation des Heils heraus ein neues Tun. Umkehr ohne Tun des Willens Gottes ergibt jedenfalls für die Bergrede nicht die „bessere“ Gerechtigkeit der Jünger im Anbruch des Reiches Gottes. Auch auf Paulus kann mich sich hierfür nicht berufen, wie Röm. 6,11 ff eindeutig beweisen (vgl. auch 2 Kor. 5,10). Wir können der Tatsache nicht ausweichen, dass die Bergpredigt die gute Frucht, die einzelnen guten Werke, das Tun der Liebe fordert. Jede Deutung der Bergpredigt ist verfehlt, die dem nicht Rechnung trägt.
(Grundriss zum Neuen Testament. Hrsg. v. G. Friedrich. Ethik des Neuen Testaments von H. - D. Wendland. Göttingen 1970.)
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