Dein Reich komme

Unter den christlichen Texten gibt es keinen, der so stark auf die Frömmigkeit, die liturgische Praxis und die Lehre gewirkt hat wie das Vaterunser. Wenn Christen heute das Vaterunser beten, knüpft der Wortlaut an Mt 6,9-13 an. Mattäus stellt dieses Gebet in das Zentrum der von ihm redaktionell bearbeiteten "Berglehre". Jedoch ist der dortige Text nicht die älteste Form des Vaterunsers. Traditionsgeschichtlich entstand die Form, die im dritten Evangelium bei Lukas gegeben ist, vorher. Der im Rahmen der Rekonstruktion der Logienquelle Q erstellte Text dürfte dem Gebet des historischen Jesus am nächsten kommen.

Ein synoptischer Vergleich zeigt die (eher geringen) Unterschiede auf. Im Vergleich zu Lukas und Q fällt auf, dass die Fassung bei Mt drei Erweiterungen enthält, die offenbar aus dem liturgischen Gebrauch des Gebets herrühren, inhaltlich jedoch keine wesentlichen weiteren Aussagen bringen.

An die Anrede "Vater!" ist "unser in dem Himmel" angefügt.

Eine dritte Du-Bitte erweitert den Eröffnungswunsch und Kern des Gebets "Dein Reich komme" ausgestaltend: "Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel."

Dem Abschluss der "Wir-Bitten": "Und führe uns nicht in Versuchung" wird eine positive Ergänzung angefügt: "sondern erlöse uns von dem Bösen".

 

 

 

Das Vaterunser - ein Gebet um das Kommen des Reiches Gottes:

 

UNSER VATER IM HIMMEL

Das Gebet beginnt mit der Anrede Gottes als "Vater". Die Umgangssprache der Juden in Palästina zur Zeit Jesu war aramäisch. Die gottesdienstliche Sprache in der Synagoge aber war in der Regel hebräisch. So ist einerseits denkbar, dass die Anrede "Vater" dem aramäischen "Abba" entspricht, andererseits der hebräischen Gebetsanrede "Abinu" ("Unser Vater"). Vieles spricht für das einfache "Vater" der aramäischen Version. Hierbei ist wesentlich die vertrauliche Anrede Gottes als "Abba" - "Papa". Im Rahmen des liturgischen Gebrauchs durch die Gemeinde wurde diese Anrede ausgestaltet und präzisiert: "Vater unser im Himmel".

 

DEIN NAME WERDE GEHEILIGT

Die Anrede Gottes als Vater wird ergänzt durch eine verehrende Huldigung: Gott, sein Name ist unaussprechlich, ist der Heilige.

 

DEIN REICH KOMME

Nach der Anrede Gottes wird schließlich das zentrale Thema des Gebets angesprochen: die Bitte, dass das Reich Gottes, zentrales Thema der Predigt Jesu, endlich kommen möge.

 

DEIN WILLE GESCHEHE WIE IM HIMMEL SO AUF DER ERDE

Diese in der Lukasfassung und bei Q fehlende Bitte wurde wahrscheinlich von Mt formuliert. Sie gestaltet lediglich die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes aus und formuliert sie um. Mit der endgültigen Verwirklichung des Reiches Gottes geschieht der Wille Gottes auch auf Erden (so wie jetzt im Himmel).

 

GIB UNS HEUTE DAS BROT, DAS WIR BRAUCHEN

Im Rahmen der endzeitlichen Erwartung wird der zentralen Bitte um das Kommen des Reiches Gottes die "materielle" Bitte hinzugefügt, das für das Leben heute noch Notwendige zu gewähren, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

UND ERLASS UNS UNSERE SCHULDEN, WIE AUCH WIR SIE UNSEREN SCHULDNERN ERLASSEN HABEN

In Erwartung der Ankunft des Reiches Gottes wird um Vergebung der eigenen Verfehlungen gebetet. In Anbetracht der endzeitlichen Gegebenheiten ist auch ein Rechten mit dem Mitmenschen wegen dessen Verfehlungen nicht mehr angemessen.

 

UND FÜHRE UNS NICHT IN VERSUCHUNG, SONDERN RETTE UNS VOR DEM BÖSEN.

Schließlich wird die Bitte angefügt, in Anbetracht des kurz bevorstehenden Anbruchs des Reiches Gottes nicht noch im letzten Augenblick der Versuchung zu erliegen und dem Glauben untreu zu werden. Das Gebet schließt dann, die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes variierend: "Rette uns vor dem Bösen."

 

Das Vaterunser ist somit insgesamt ein Gebet, dass das Ende der Welt und des jetzigen Äons kommen und das Reich Gottes endgültig anbrechen möge.

 

Ob sich die heutigen Beter des Vaterunsers dieses Inhalts immer bewusst sind?

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