Alles begann in der Silvesternacht.
Zwölf Uhr. Im Fernsehen läuteten die Glocken. Draußen krachten Böller
und Raketen. Im Hausflur schrie jemand: Prosit Neujahr! Prosit Neujahr!
Ich war allein. In jeder Beziehung. In diesem Neuen Jahr würde ich meinen
17. Geburtstag feiern. Das war das einzige, was ich sicher wusste. Nein -
noch etwas: Ich würde ihn nicht mit Lukas feiern. Das wusste ich seit
einer knappen Stunde.
Die Fete lief von Anfang an schief. Die meisten waren
schon gegen neun Uhr abgefüllt. Sie hingen abgeschlafft in den Ecken oder
tippten endlose SMS-Nachrichten in ihre Handys. Die Plettenbergs hatten für
Kartoffelsalat, Würstchen und Käsebrötchen gesorgt. In der Küche stand
ein Topf mit Gulaschsuppe, fertig zum Aufwärmen. Aber das Bierfass auf
dem Balkon und die Sektflaschen im Kühlschrank waren attraktiver.
Ich war zum ersten Mal im Haus der Plettenbergs, und ich war schwer
beeindruckt. Es sah aus wie eine Filmvilla. Eine Wohnhalle mit mehreren
Sitzgruppen, verglaste Sammlervitrinen, Stuckdecke, offener Kamin. Die
freischwebende Treppe, die prima in eine Silvestershow gepasst hätte, führte
auf die säulengestützte Galerie. Hinter hohen weißlackierten Türen
lagen Schlafräume und Bäder.
Im Untergeschoss wohnte Lukas. Er hatte dort ein Schlafzimmer, einen
Hobbyraum mit Billardtisch und Fitnessgeräten, ein Arbeitszimmer und ein
Bad. Auch die Gästetoilette war dort unten. Paula zeigte sie mir. Sie
kannte sich hier aus.
Ich hatte im Traum nicht mit dieser Einladung
gerechnet. Ich gehörte nicht dazu. Noch nie. Warum hatte Lukas dann
gesagt, ich sollte kommen? Wahrscheinlich, weil er sich versprochen hatte.
Einfach nur so. Aus Verlegenheit.
Es war am letzten Tag vor den Weihnachtsferien.
Tschüs dann bis zum 31., hatte Lukas gesagt.
Wieso?, fragte ich. Was ist denn am 31.?
Und er antwortete: Wir machen ne Silvesterfete. Bei mir zu Hause. Du bist
natürlich auch eingeladen.
Eigentlich wollte ich nicht hingehen. Was sollte ich
da? Wen würde ich da schon treffen? Lukas, Tanja, Frank, Laura, Wolli,
Paula, Tommy - die üblichen Verdächtigen eben. Die spielten alle in
einer anderen Liga als ich. Schon von den Klamotten her konnte ich nicht
mithalten. Wie denn auch? Von den paar Kröten, die meine Mutter mit
Dateneingaben verdiente? Oder von dem Unterhalt, den mein Vater immer erst
nach mehreren wütenden Anrufen rausrückte? Damit kam man nicht weit.
Schon gar nicht bei der Art, wie meine Mutter mit Geld umging.
In dieser Nacht klickte ich mich zum ersten Mal in
einen chat ein. Die Adresse hatte ich aus einer Rundfunkzeitung
herausgerissen. „Der beste Flirt im Internet“ hieß der Artikel.
Es war ganz einfach. Nachdem ich das Passwort eingegeben hatte, das auf
einem gelben Zettel am Computer klebte, öffnete sich die home-page.
Willkommen
im chat! Suche dir einen nick-name!
Nick-name - ein Spitzname. Welchen sollte ich nehme?
Meine Mutter sagt Putzi zu mir, wenn sie gute Laune hat. Mein Vater nennt
mich Anna selbdritt. Warum weiß ich nicht genau. Er macht gern Scherze,
die niemand versteht. Meine Großmutter heißt Anna-Katharina, meine
Mutter heißt Annemarie und ich heiße Anna. Wahrscheinlich hat es damit
zu tun. Aber warum eigentlich ein nick - warum nicht einfach mein
richtiger Name? Ich tippte ihn ein. Anna.
dieser nick-name
ist bereits vergeben. folgende ähnliche nicks sind noch frei:
anna5
anna!!!
coolAnna2
darkAnna!!
happyAnna4
mrs.Anna
Wenn dir keiner
davon gefällt, gehe zurück zur Startseite und wähle erneut.
Ich ging zurück zur Startseite. Ein nick - ein möglichst
ausgefallener, einer, auf den noch keiner gekommen war. Ich tippte
„Penthesilea“ ein. Wir hatten gerade in Deutsch das Drama von Kleist
gelesen. Beim Kampf um Troja verliebt sich die Amazonenkönigin
Penthesilea in den griechischen Helden Achill. Achill scheint sie zurückzuweisen,
und die tödlich beleidigte Penthesilea bringt ihn um.
Die ganze Klasse stöhnte über diesen Text. Aber mir gefiel er. Die
gelangweilte Arroganz dieses Griechen - das war doch Originalton Lukas
Plettenberg. Genauso sprach er mit mir. Wenn er überhaupt mal mit mir
sprach. In meiner Phantasie habe ich ihn umgebracht, niedergestochen,
hingemetzelt und zu meinen Füßen verbluten lassen. Immer wieder. In
jeder Deutschstunde. Es machte richtig Spaß.
„Penthesilea“ als nick-name. Das klappte.
willkommen im
chat, Penthesilea! zur zeit sind 3.943 besucher online.
3.943 Besucher? In der Silvesternacht! In der Nacht
der Nächte. In der Nacht der Feten, der Discos, der Bälle, der
Gala-Diners mit Live-Musik, der Familienfeiern. In der Nacht, in der Lukas
mit Paula zusammen gekommen war....
3.943 Leute saßen um Mitternacht allein vor dem Bildschirm. Ob manche von
ihnen auch heulten? So wie ich.
wähle
einen Raum!
Für die ausgeklappte Liste der chat-rooms reichte
der Bildschirm nicht aus. Ich ließ den cursor wandern.
flirtchat
net-singles
Einfach
nur chatten
14-17
der
teenchat
chatcafè
bayern
höllenpforte
30+Flirt
chatten
über Rechts
chatinsel
Ich tippte als erstes auf flirtchat. Der Raum war
geschlossen. Wegen Überfüllung. Bei net-singles das Gleiche. Raum 14-17
und teenchat - da sind wahrscheinlich bloß die absoluten kiddies drin.
Also klickte ich auf chatcafè.
Auf dem Bildschirm öffnete sich ein neues Fenster.
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