Kapitel 1 (1)

Alles begann in der Silvesternacht.
Zwölf Uhr. Im Fernsehen läuteten die Glocken. Draußen krachten Böller und Raketen. Im Hausflur schrie jemand: Prosit Neujahr! Prosit Neujahr!
Ich war allein. In jeder Beziehung. In diesem Neuen Jahr würde ich meinen 17. Geburtstag feiern. Das war das einzige, was ich sicher wusste. Nein - noch etwas: Ich würde ihn nicht mit Lukas feiern. Das wusste ich seit einer knappen Stunde. 

Die Fete lief von Anfang an schief. Die meisten waren schon gegen neun Uhr abgefüllt. Sie hingen abgeschlafft in den Ecken oder tippten endlose SMS-Nachrichten in ihre Handys. Die Plettenbergs hatten für Kartoffelsalat, Würstchen und Käsebrötchen gesorgt. In der Küche stand ein Topf mit Gulaschsuppe, fertig zum Aufwärmen. Aber das Bierfass auf dem Balkon und die Sektflaschen im Kühlschrank waren attraktiver. 
Ich war zum ersten Mal im Haus der Plettenbergs, und ich war schwer beeindruckt. Es sah aus wie eine Filmvilla. Eine Wohnhalle mit mehreren Sitzgruppen, verglaste Sammlervitrinen, Stuckdecke, offener Kamin. Die freischwebende Treppe, die prima in eine Silvestershow gepasst hätte, führte auf die säulengestützte Galerie. Hinter hohen weißlackierten Türen lagen Schlafräume und Bäder. 
Im Untergeschoss wohnte Lukas. Er hatte dort ein Schlafzimmer, einen Hobbyraum mit Billardtisch und Fitnessgeräten, ein Arbeitszimmer und ein Bad. Auch die Gästetoilette war dort unten. Paula zeigte sie mir. Sie kannte sich hier aus. 

Ich hatte im Traum nicht mit dieser Einladung gerechnet. Ich gehörte nicht dazu. Noch nie. Warum hatte Lukas dann gesagt, ich sollte kommen? Wahrscheinlich, weil er sich versprochen hatte. Einfach nur so. Aus Verlegenheit. 
Es war am letzten Tag vor den Weihnachtsferien. 
Tschüs dann bis zum 31., hatte Lukas gesagt. 
Wieso?, fragte ich. Was ist denn am 31.?
Und er antwortete: Wir machen ne Silvesterfete. Bei mir zu Hause. Du bist natürlich auch eingeladen.

Eigentlich wollte ich nicht hingehen. Was sollte ich da? Wen würde ich da schon treffen? Lukas, Tanja, Frank, Laura, Wolli, Paula, Tommy - die üblichen Verdächtigen eben. Die spielten alle in einer anderen Liga als ich. Schon von den Klamotten her konnte ich nicht mithalten. Wie denn auch? Von den paar Kröten, die meine Mutter mit Dateneingaben verdiente? Oder von dem Unterhalt, den mein Vater immer erst nach mehreren wütenden Anrufen rausrückte? Damit kam man nicht weit. Schon gar nicht bei der Art, wie meine Mutter mit Geld umging.

In dieser Nacht klickte ich mich zum ersten Mal in einen chat ein. Die Adresse hatte ich aus einer Rundfunkzeitung herausgerissen. „Der beste Flirt im Internet“ hieß der Artikel. 
Es war ganz einfach. Nachdem ich das Passwort eingegeben hatte, das auf einem gelben Zettel am Computer klebte, öffnete sich die home-page. 

 

Willkommen im chat! Suche dir einen nick-name!

 

Nick-name - ein Spitzname. Welchen sollte ich nehme? Meine Mutter sagt Putzi zu mir, wenn sie gute Laune hat. Mein Vater nennt mich Anna selbdritt. Warum weiß ich nicht genau. Er macht gern Scherze, die niemand versteht. Meine Großmutter heißt Anna-Katharina, meine Mutter heißt Annemarie und ich heiße Anna. Wahrscheinlich hat es damit zu tun. Aber warum eigentlich ein nick - warum nicht einfach mein richtiger Name? Ich tippte ihn ein. Anna. 

dieser nick-name ist bereits vergeben. folgende ähnliche nicks sind noch frei: 

                        anna5
                        anna!!!
                        coolAnna2
                        darkAnna!!
                        happyAnna4
                        mrs.Anna
Wenn dir keiner davon gefällt, gehe zurück zur Startseite und wähle erneut.

 

Ich ging zurück zur Startseite. Ein nick - ein möglichst ausgefallener, einer, auf den noch keiner gekommen war. Ich tippte „Penthesilea“ ein. Wir hatten gerade in Deutsch das Drama von Kleist gelesen. Beim Kampf um Troja verliebt sich die Amazonenkönigin Penthesilea in den griechischen Helden Achill. Achill scheint sie zurückzuweisen, und die tödlich beleidigte Penthesilea bringt ihn um. 
Die ganze Klasse stöhnte über diesen Text. Aber mir gefiel er. Die gelangweilte Arroganz dieses Griechen - das war doch Originalton Lukas Plettenberg. Genauso sprach er mit mir. Wenn er überhaupt mal mit mir sprach. In meiner Phantasie habe ich ihn umgebracht, niedergestochen, hingemetzelt und zu meinen Füßen verbluten lassen. Immer wieder. In jeder Deutschstunde. Es machte richtig Spaß.

 

„Penthesilea“ als nick-name. Das klappte. 

 

willkommen im chat, Penthesilea! zur zeit sind 3.943 besucher online.

 

3.943 Besucher? In der Silvesternacht! In der Nacht der Nächte. In der Nacht der Feten, der Discos, der Bälle, der Gala-Diners mit Live-Musik, der Familienfeiern. In der Nacht, in der Lukas mit Paula zusammen gekommen war.... 
3.943 Leute saßen um Mitternacht allein vor dem Bildschirm. Ob manche von ihnen auch heulten? So wie ich.

 

wähle einen Raum!

 

Für die ausgeklappte Liste der chat-rooms reichte der Bildschirm nicht aus. Ich ließ den cursor wandern. 

            flirtchat
            net-singles
            Einfach nur chatten
            14-17
            der teenchat
            chatcafè
            bayern
            höllenpforte
            30+Flirt
            chatten über Rechts
            chatinsel

 

Ich tippte als erstes auf flirtchat. Der Raum war geschlossen. Wegen Überfüllung. Bei net-singles das Gleiche. Raum 14-17 und teenchat - da sind wahrscheinlich bloß die absoluten kiddies drin. Also klickte ich auf chatcafè. 
Auf dem Bildschirm öffnete sich ein neues Fenster. 

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