Weißt
du wer gestern Perm Op im Raum SchülerInnenhilfe geworden ist?, fragte
Wolli.
Nö, sagte Tom und schaufelte noch eine Portion Gulasch auf seinen
Teller, nicht jeder schleppt einen Laptop mit in die Alpen. Ich war
schon seit Tagen nicht mehr online. Und wer ist jetzt der Perm?
MikeNRW - das musst du dir mal auf der Zunge zergehen lassen,
ausgerechnet dieser Spinner. Möchte mal wissen, was sich nonverbal
dabei gedacht hat.
Was ist denn überhaupt ein Perm Op, fragte Laura, und wer oder was ist
nonverbal und wieso zum Teufel bleiben alle Schüsseln immer an eurem
Endes des Tischs hängen?
Wolli stand auf. Ich hole noch mal Nachschub, sagte er, wir futtern hier
wie Schwerstarbeiter.
Das stimmte. Nach den Stunden auf der Piste fielen sie abends durstig
und ausgehungert wie ein Heuschreckenschwarm in den Speisesaal ein,
verschlangen ungeheure Mengen Suppe, Fleisch, Nudeln, Kartoffeln, Gemüse,
Salat, Pudding oder Quarkspeisen und tranken dazu literweise abwechselnd
blassroten oder hellgelben Tee aus hohen Aluminiumkannen, ein Gebräu,
das sie am ersten Abend angewidert zurückgeschoben hatten und das jetzt
alle einfach kultig fanden.
Also, sagte Wolli, und schob Laura als erster den Gulasch zu, nonverbal
ist der Administrator des chat-rooms SchülerInnenhilfe, der Hausherr
sozusagen, er hat dafür bezahlt. Ein Perm Op ist ein permanenter
Operator, der wird vom Administrator ernannt und hat dann besondere
Rechte.
Besondere Rechte?, fragte Lukas mit vollem Mund und lachte. Das verstößt
garantiert gegen das Grundgesetz, du Erklärbär.
Wolli ließ sich nicht beirren: So ein Perm kann dich kicken oder muten,
der kann dich sogar bannen.
Wie bitte?, sagte Paula. Geht das auch auf Deutsch?
Weiber, stöhnte Tom, keine Ahnung, aber dauernd die Klappe offen.
Also, das ist so, sagte Wolli: Kicken heißt, er wirft dich aus dem
Raum. Das ist blöd, aber du kannst natürlich gleich wieder rein
kommen. Beim Muten stellt er dich stumm. Dann kannst du dir die Finger
wund tippen – auf dem Bildschirm der anderen erscheinst du einfach
nicht mehr. Du merkst es nur daran, dass dir niemand mehr antwortet. Das
ist schon ärgerlicher. Aber wenn er dich bannt, dann kommst du tage-
oder wochenlang nicht mehr in den Raum. Da kannst du nur entscheiden, ob
du woanders hingehst oder ob du den Perm anbettelst, damit er den Bann
aufhebt.
Na ja, sagte Paula, für diesen Kram interessiere ich mich nicht. Warst
du schon mal in einem chat, Anna?
Anna nickte mit vollem Mund.
Und was für einen nick hast du?, fragte Lukas.
Falsche Frage, sagte Anna, mein nick ist mein Geheimnis.
Ich finde das blöd. Paula schob ihren Teller zurück. Wenn man nicht
weiß, mit wem man redet, ist es doch langweilig.
Im Gegenteil, sagte Wolli, das ist doch gerade das Spannende. Du redest
da mit Leuten, die dich in der Realität vielleicht nicht einmal ansehen
würden. Und im Dia erzählen die meisten nach und nach auch etwas mehr
von sich selbst. Und sonst findet man mit der Zeit auch so ne ganze
Menge heraus.
Wie denn, wenn niemand was von sich erzählt?
Da gibt es viele Möglichkeiten, sagte Wolli. Manche erkennst du an den
Themen wieder. Da kommt zum Beispiel einer mit immer neuen
unregistrierten nicks, aber er redet über nichts anderes als über
Wehrdienst oder Wehrdienstverweigerung. Wenn du den rausfinden willst,
brauchst du nur was über Zivis zu meckern, dann hast du ihn am Hals.
Andere erkennst du daran, wie sie schreiben. Die Alten zum Beispiel
schreiben dass noch mit ß. Dann gibt es ein paar, die schreiben wie im
Deutschaufsatz, mit Groß- und Kleinschreibung, mit ganzen Sätzen usw..
Ein anderer Typ kommt auch unter verschiedenen nicks, hat aber die
Angewohnheit, seine Bemerkungen immer mit _ zu trennen. Dann gibt es
einen, bei dem kannst du anfangen, womit du willst, du landest immer bei
Mathematik. Das ist seine Spezialmacke, darin hat er auch schwer was
los. Bei anderen Leuten erkennt man bestimmte Redewendungen wieder oder
die immer gleichen Rechtschreibefehler. Ich mache mir immer Logs von den
Gesprächen, um sie nachher zu vergleichen.
Mensch Wolli, sagte Laura, das klingt ja schon süchtig, dieses
stundenlange Hocken vor dem PC. Warum rufst du nicht die Leute an, mit
denen du reden willst oder triffst dich einfach mit ihnen?
Wolli räumte die Teller zusammen und stapelte sie auf den Servierwagen.
Dann holte er den Schokoladenpudding und die Kannen mit der Vanillesoße
für den Tisch an der Durchreiche zur Küche ab.
Würdest du eigentlich jemanden von uns im chat wiedererkennen, fragte
Tom, als er ihm die Puddingschüssel zuschob.
Wahrscheinlich. Wenn er oft genug da ist oder wenn er einen nick hat,
der mich an was erinnert. Und außerdem gibt es da noch einige
Hacker-Tricks.
An
diesem Abend waren Anna, Tanja und Lukas zum Spüldienst eingeteilt. Die
Jugendherberge besaß zwei große Profi-Spülmaschinen, aber bevor das
Geschirr darin einsortiert werden konnte, mussten die gröbsten
Essenreste von den Tellern, aus den Schüsseln und den Töpfen gekratzt
und in die blauen Restetonnen entsorgt werden. Sie hatten sich die
Arbeit aufgeteilt. Lukas fischte mit angewidertem Gesicht die
durchweichten Papierservietten, Zigarettenkippen und Zahnstocher heraus
und warf sie in einen Abfalleimer. Dann gab er das Geschirr an Anna
weiter, die mit einem Gerät, das wie ein Teigschaber aussah, die Überbleibsel
von Gulasch, Nudeln, Salat und Pudding von den Tellern kratzte. Tanja
sortierte die Sachen in die Maschine ein, Teller und Tassen in die
passenden Etagen, Bestecke in die Körbe.
Kommt ihr nachher noch mit in die Disco, fragte Lukas.
Tanja schüttelte den Kopf.
Ich bin fix und foxi, ich könnte im Stehen einschlafen. Dieser Jonas
sollte mit Nachnamen Käfer heißen. Der läuft und läuft und läuft...
Und wie ist er sonst so?, fragte Anna.
Schwer
zu sagen, er ist ziemlich ruhig. Aber ich glaube, er hat Humor. Ist eher
so der Langzeittyp.
Na sieh mal an, sagte Lukas, Anna, unsere eiserne Jungfrau, interessiert
sich für diesen Langläufer. Dann bist du in der Disco garantiert
falsch. Der Typ steht nicht auf Heavy Metal, der spielt klassische und
spanische Gitarre.
Wieso weißt du denn das?
Weil er denselben Musiklehrer hat wie meine Schwester.
Die Welt ist ein Dorf, sagte Anna.
Das
Viererzimmer war zu klein. Vor dem Spiegelschrank über dem Waschbecken
drängten sich schon Paula und Laura. Tanja hatte beschlossen, mit ihrem
Wasch- und Abschminkritual zu warten, bis die anderen fertig waren. Anna
saß mit gekreuzten Beinen im Lotossitz auf ihrem Bett, lehnte ihren
runden Kosmetikspiegel gegen das Kopfende und verteilte vorsichtig eine
kühlende Lotion auf ihrem leicht geröteten Gesicht. Tanja hatte sie
ihr gegeben. Sie hatte selbst einen leichten Sonnenbrand. Die Strahlung
über dem Schnee war stärker, als sie gedacht hatte. Morgen wollten sie
sich einen Sunblocker besorgen.
Willst du auch etwas von meinem Puder?, fragte Tanja. Der nimmt den
Glanz von der Nase. Hier, bedien dich.
Sie reichte eine flache Silberdose nach oben.
Anna betupfte Nase, Stirn und Kinn mit dem duftenden transparenten
Pulver. Das sah gleich besser aus.
Ich empfehle dunkelbraunen Kajal als Lidstrich, sagte Tanja.
Hab ich nicht. Ich weiß nicht mal, wie man den richtig aufträgt.
Komm mal runter, dann male ich dich an.
Das Ergebnis war verblüffend. Die feinen Linien über den Wimpern und
auf dem unteren Lidrand ließ Annas Augen groß und dunkel aus dem
schmalen Gesicht leuchten.
Jetzt aber keinen Lippenstift mehr, oder was meinst du?
Tanja schüttelte den Kopf. Nimm nur ein bisschen Gloss, das genügt. Du
hast ganz tolle Augen, das ist mir noch nie so aufgefallen.
Natürlich
ging Anna in die Disco. Jetzt erst recht. Sie hätte sich auf die Zunge
beißen können vor Ärger. Warum hatte sie sich nach diesem Jonas
erkundigt? Der Typ war doch völlig uninteressant. So uninteressant wie
sie selbst offenbar für Lukas. Aus der angeblich guten Gelegenheit zum
ausführlichen Quatschen war bisher nichts geworden. Das lag nicht nur
daran, dass sie zu unterschiedlichen Leistungsgruppen gehörten. Lukas
schien ihr auch bei den Mahlzeiten und den Abendveranstaltungen sorgfältig
auszuweichen. Die paar Worte beim gemeinsamen Küchendienst waren die
ersten auf der ganzen Reise, die sie miteinander gewechselt hatten.
Anna seufzte. Wenn Lukas der Hauptgrund für ihre Teilnahme an dieser
Skireise war, dann hätte sie ihr Geld wirklich besser anlegen können.
Bevor sie das Zimmer verließ, musterte sie sich noch einmal kritisch in
dem jetzt frei gewordenen Spiegel über dem Waschbecken.
Der hellblaue Mohairpulli, den Feli ihr zugleich mit Skianzug,
Handschuhen, Wollsocken, Mütze und Brille geschickt hatte, saß hauteng
und war so weit ausgeschnitten, dass der Spitzenrand ihres BH darunter
vorblitzte. Anna straffte die Schultern und zog den Ausschnitt etwas
mehr nach oben.
Was meinst du, kann ich damit gehen?
Aber klar doch! , sagte Tanja. Das Ding steht dir super. Die Funke
kriegt wahrscheinlich einen Herzkasper und lamentiert über den Verfall
der guten Sitten. Aber die Jungs werden Augen machen.
Die
Disco war im Keller der Jugendherberge untergebracht. Man hörte sie
schon im Parterre, das ersparte die Wegbeschreibung. Alle Discos sind
laut, aber diese strebte mit guten Erfolgsaussichten den Rekord an. Der
Lärm erfüllte den Tatbestand der Körperverletzung. Anna blieb am
Eingang stehen und betrachtete die Tanzenden. Der wandernde Laserstrahl
tauchte die Gesichter in fahles Blau. Die meisten der Tanzenden hielten
die Augen geschlossen, die Köpfe pendelten wie in einer kollektiven
Trance, die Körper zuckten im gleichen Rhythmus.
Anna fand kaum ein bekanntes Gesicht. Am vorigen Tag waren zwei neue
Schulklassen aus Krefeld angekommen. Jemand fasste sie am Arm und zog
sie mit auf die Tanzfläche. Es war Tom. Sie erkannte ihn an seinem
Geruch, noch bevor sie ihn anschaute. Eine Mischung aus Zigarettenrauch
und einem Herrenparfum, das nach leicht nach Leder und viel zu stark
nach Moschus roch. An diesem Abend trug Tom ein weißes Muskelshirt und
hautenge Jeans, ein völlig ungewohnter Anblick. Wie alle in der Klasse,
kannte sie ihn nur im Schlabberlook.
Er sagte irgend etwas. Anna hob fragend die Schultern, sie verstand ihn
nicht in diesem Höllenlärm.
Ich habe Klasse Speed, brüllte er dicht an ihrem Ohr, willst du
welches?
Dieses Mal hatte sie ihn verstanden. Sie schüttelte den Kopf.
Warum nicht? Probier doch mal, das Zeug ist Spitze. Kostet auch nichts.
Weil du es bist.
Nein! Ich will das nicht, sagte Anna.
Die
Musikauswahl war sehr begrenzt und blieb den ganzen Abend über annähernd
gleich. Limp Bizkit, Staind, Linkin Park und Papa Roach wechselten sich
ab. Anna fragte sich, ob Tom auch den Disjockey mit Speed versorgt
hatte. Jedenfalls war das genau die Musik, die er mochte.
Nachdem sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten,
erkannte sie auch Einzelne auf ihrer Gruppe. Lukas tanzte mit Paula, mit
Laura, dann wieder mit Paula.
Ich gehe mal für ne Weile raus, sagte Anna in einer der kurzen Pausen,
hier fliegen mir gleich die Ohren weg. Vielleicht finde ich jemanden,
der Lust auf eine Partie Billard hat.
Tom schien sie gar nicht zu hören. Er hatte die Augen halb geschlossen
und bewegte sich noch immer im Rhythmus des längst beendeten letzten
Songs.
Der
Billardraum befand sich in einem Anbau. Um ihn zu erreichen, musste man
durch einen langen schlauchartigen Flur gehen, der in der Höhe der
ersten Etage wie eine Brücke den alten mit dem neuen Teil des Hauses
verband. Im diesem Neubau war die Verwaltung untergebracht, einige
Vorrats- und Materialräume, ein Fitness-Raum, ein großer und zwei
kleinere Konferenzräume und - ganz am Ende des Flurs - das
Billardzimmer.
Anna tippte auf den Lichtschalter. Nach dem Lärm der Disco war es hier
gespenstisch still. Die Büroräume waren längst verlassen und auch die
Konferenzräume wurden so spät am Abend nicht mehr genutzt, die Tür
zum Fitness-Raum stand offen. Hier war niemand. Auch das Billardzimmer
war leer. Auf einem der Tische lag eine Illustrierte. Anna nahm sie mit
als Lesestoff fürs Bett. Sie konnte bei geschlossenem Fenster schlecht
einschlafen, aber die anderen drei protestierten lautstark, als sie
versuchte hatte, wenigstens eines der Fenster nachts einen Spalt weit
offen zu lassen.
Als sie die Tür zum Billardraum hinter sich zuzog und sich auf den Rückweg
machte, sah sie am Ende des Gangs ganz kurz eine Silhouette auftauchen.
Vielleicht fand sich ja doch noch ein Billardpartner. Anna zögerte
einen Moment, aber der Mann war verschwunden. Sie hatte schon mehr als
die Hälfte des Flurs hinter sich gebracht, als das Deckenlicht erlosch.
Ein Zeitschalter, dachte sie. Sie ging langsam weiter, tastete sich an
der Wand entlang und suchte dabei vergeblich nach einem Lichtschalter.
Kurz bevor sie mit ihm zusammenstieß, roch sie ihn.
Tanja
schlief. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Anna machte kein Licht. Der
Widerschein der Leuchtpilze entlang der Auto-Auffahrt, reflektiert vom
Schnee und unterstützt von einem fast vollen Mond, genügte, um das
Zimmer in ein sanftes Halbdunkel zu tauchen. Anna zog sich aus. Sie
legte ihre Sachen über die Stuhllehne. Felis Pulli war über der Brust
eingerissen, der linke Träger des BH baumelte lose herunter. Sie schlüpfte
aus Jeans und Slip, zog die Pyjamahose an und schlich zum Waschbecken.
Die Seife und das kalte Wasser brannten auf ihren aufgeplatzten Lippen.
Sie tastete vorsichtig über Gesicht und Hals. Die Stelle über dem
rechten Jochbein schmerzte bei ihrer Berührung, dass die Lippe
aufgeplatzt war, hatte sie schon an dem faden Blutgeschmack in ihrem
Mund gemerkt. Am Ansatz der linken Brust fühlte sie eine Schwellung,
und das Schlucken schmerzte so sehr, dass sie beschloss, sich heute
nicht die Zähne zu putzen. Sie trocknete sich vorsichtig ab und
betupfte den Mund mit einem Zellstofftuch. Der Riss in der Unterlippe
blutete noch immer.
Erst als sie in ihrem Bett lag, die Arme um die hochgezogenen Knie
geschlungen und die Decke über den Kopf gezogen, begann sie zu
weinen.