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Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 14

 

Weißt du wer gestern Perm Op im Raum SchülerInnenhilfe geworden ist?, fragte Wolli.
Nö, sagte Tom und schaufelte noch eine Portion Gulasch auf seinen Teller, nicht jeder schleppt einen Laptop mit in die Alpen. Ich war schon seit Tagen nicht mehr online. Und wer ist jetzt der Perm?
MikeNRW - das musst du dir mal auf der Zunge zergehen lassen, ausgerechnet dieser Spinner. Möchte mal wissen, was sich nonverbal dabei gedacht hat.
Was ist denn überhaupt ein Perm Op, fragte Laura, und wer oder was ist nonverbal und wieso zum Teufel bleiben alle Schüsseln immer an eurem Endes des Tischs hängen?
Wolli stand auf. Ich hole noch mal Nachschub, sagte er, wir futtern hier wie Schwerstarbeiter.
Das stimmte. Nach den Stunden auf der Piste fielen sie abends durstig und ausgehungert wie ein Heuschreckenschwarm in den Speisesaal ein, verschlangen ungeheure Mengen Suppe, Fleisch, Nudeln, Kartoffeln, Gemüse, Salat, Pudding oder Quarkspeisen und tranken dazu literweise abwechselnd blassroten oder hellgelben Tee aus hohen Aluminiumkannen, ein Gebräu, das sie am ersten Abend angewidert zurückgeschoben hatten und das jetzt alle einfach kultig fanden.
Also, sagte Wolli, und schob Laura als erster den Gulasch zu, nonverbal ist der Administrator des chat-rooms SchülerInnenhilfe, der Hausherr sozusagen, er hat dafür bezahlt. Ein Perm Op ist ein permanenter Operator, der wird vom Administrator ernannt und hat dann besondere Rechte.
Besondere Rechte?, fragte Lukas mit vollem Mund und lachte. Das verstößt garantiert gegen das Grundgesetz, du Erklärbär.
Wolli ließ sich nicht beirren: So ein Perm kann dich kicken oder muten, der kann dich sogar bannen.
Wie bitte?, sagte Paula. Geht das auch auf Deutsch?
Weiber, stöhnte Tom, keine Ahnung, aber dauernd die Klappe offen.
Also, das ist so, sagte Wolli: Kicken heißt, er wirft dich aus dem Raum. Das ist blöd, aber du kannst natürlich gleich wieder rein kommen. Beim Muten stellt er dich stumm. Dann kannst du dir die Finger wund tippen – auf dem Bildschirm der anderen erscheinst du einfach nicht mehr. Du merkst es nur daran, dass dir niemand mehr antwortet. Das ist schon ärgerlicher. Aber wenn er dich bannt, dann kommst du tage- oder wochenlang nicht mehr in den Raum. Da kannst du nur entscheiden, ob du woanders hingehst oder ob du den Perm anbettelst, damit er den Bann aufhebt.
Na ja, sagte Paula, für diesen Kram interessiere ich mich nicht. Warst du schon mal in einem chat, Anna?
Anna nickte mit vollem Mund.
Und was für einen nick hast du?, fragte Lukas.
Falsche Frage, sagte Anna, mein nick ist mein Geheimnis.
Ich finde das blöd. Paula schob ihren Teller zurück. Wenn man nicht weiß, mit wem man redet, ist es doch langweilig.
Im Gegenteil, sagte Wolli, das ist doch gerade das Spannende. Du redest da mit Leuten, die dich in der Realität vielleicht nicht einmal ansehen würden. Und im Dia erzählen die meisten nach und nach auch etwas mehr von sich selbst. Und sonst findet man mit der Zeit auch so ne ganze Menge heraus.
Wie denn, wenn niemand was von sich erzählt?
Da gibt es viele Möglichkeiten, sagte Wolli. Manche erkennst du an den Themen wieder. Da kommt zum Beispiel einer mit immer neuen unregistrierten nicks, aber er redet über nichts anderes als über Wehrdienst oder Wehrdienstverweigerung. Wenn du den rausfinden willst, brauchst du nur was über Zivis zu meckern, dann hast du ihn am Hals. Andere erkennst du daran, wie sie schreiben. Die Alten zum Beispiel schreiben dass noch mit ß. Dann gibt es ein paar, die schreiben wie im Deutschaufsatz, mit Groß- und Kleinschreibung, mit ganzen Sätzen usw.. Ein anderer Typ kommt auch unter verschiedenen nicks, hat aber die Angewohnheit, seine Bemerkungen immer mit _ zu trennen. Dann gibt es einen, bei dem kannst du anfangen, womit du willst, du landest immer bei Mathematik. Das ist seine Spezialmacke, darin hat er auch schwer was los. Bei anderen Leuten erkennt man bestimmte Redewendungen wieder oder die immer gleichen Rechtschreibefehler. Ich mache mir immer Logs von den Gesprächen, um sie nachher zu vergleichen.
Mensch Wolli, sagte Laura, das klingt ja schon süchtig, dieses stundenlange Hocken vor dem PC. Warum rufst du nicht die Leute an, mit denen du reden willst oder triffst dich einfach mit ihnen?
Wolli räumte die Teller zusammen und stapelte sie auf den Servierwagen. Dann holte er den Schokoladenpudding und die Kannen mit der Vanillesoße für den Tisch an der Durchreiche zur Küche ab.
Würdest du eigentlich jemanden von uns im chat wiedererkennen, fragte Tom, als er ihm die Puddingschüssel zuschob.
Wahrscheinlich. Wenn er oft genug da ist oder wenn er einen nick hat, der mich an was erinnert. Und außerdem gibt es da noch einige Hacker-Tricks.

An diesem Abend waren Anna, Tanja und Lukas zum Spüldienst eingeteilt. Die Jugendherberge besaß zwei große Profi-Spülmaschinen, aber bevor das Geschirr darin einsortiert werden konnte, mussten die gröbsten Essenreste von den Tellern, aus den Schüsseln und den Töpfen gekratzt und in die blauen Restetonnen entsorgt werden. Sie hatten sich die Arbeit aufgeteilt. Lukas fischte mit angewidertem Gesicht die durchweichten Papierservietten, Zigarettenkippen und Zahnstocher heraus und warf sie in einen Abfalleimer. Dann gab er das Geschirr an Anna weiter, die mit einem Gerät, das wie ein Teigschaber aussah, die Überbleibsel von Gulasch, Nudeln, Salat und Pudding von den Tellern kratzte. Tanja sortierte die Sachen in die Maschine ein, Teller und Tassen in die passenden Etagen, Bestecke in die Körbe.
Kommt ihr nachher noch mit in die Disco, fragte Lukas.
Tanja schüttelte den Kopf.
Ich bin fix und foxi, ich könnte im Stehen einschlafen. Dieser Jonas sollte mit Nachnamen Käfer heißen. Der läuft und läuft und läuft...
Und wie ist er sonst so?, fragte Anna.

Schwer zu sagen, er ist ziemlich ruhig. Aber ich glaube, er hat Humor. Ist eher so der Langzeittyp.
Na sieh mal an, sagte Lukas, Anna, unsere eiserne Jungfrau, interessiert sich für diesen Langläufer. Dann bist du in der Disco garantiert falsch. Der Typ steht nicht auf Heavy Metal, der spielt klassische und spanische Gitarre.
Wieso weißt du denn das?
Weil er denselben Musiklehrer hat wie meine Schwester.
Die Welt ist ein Dorf, sagte Anna. 

Das Viererzimmer war zu klein. Vor dem Spiegelschrank über dem Waschbecken drängten sich schon Paula und Laura. Tanja hatte beschlossen, mit ihrem Wasch- und Abschminkritual zu warten, bis die anderen fertig waren. Anna saß mit gekreuzten Beinen im Lotossitz auf ihrem Bett, lehnte ihren runden Kosmetikspiegel gegen das Kopfende und verteilte vorsichtig eine kühlende Lotion auf ihrem leicht geröteten Gesicht. Tanja hatte sie ihr gegeben. Sie hatte selbst einen leichten Sonnenbrand. Die Strahlung über dem Schnee war stärker, als sie gedacht hatte. Morgen wollten sie sich einen Sunblocker besorgen.
Willst du auch etwas von meinem Puder?, fragte Tanja. Der nimmt den Glanz von der Nase. Hier, bedien dich.
Sie reichte eine flache Silberdose nach oben.
Anna betupfte Nase, Stirn und Kinn mit dem duftenden transparenten Pulver. Das sah gleich besser aus.
Ich empfehle dunkelbraunen Kajal als Lidstrich, sagte Tanja.
Hab ich nicht. Ich weiß nicht mal, wie man den richtig aufträgt.
Komm mal runter, dann male ich dich an.
Das Ergebnis war verblüffend. Die feinen Linien über den Wimpern und auf dem unteren Lidrand ließ Annas Augen groß und dunkel aus dem schmalen Gesicht leuchten.
Jetzt aber keinen Lippenstift mehr, oder was meinst du?
Tanja schüttelte den Kopf. Nimm nur ein bisschen Gloss, das genügt. Du hast ganz tolle Augen, das ist mir noch nie so aufgefallen.

Natürlich ging Anna in die Disco. Jetzt erst recht. Sie hätte sich auf die Zunge beißen können vor Ärger. Warum hatte sie sich nach diesem Jonas erkundigt? Der Typ war doch völlig uninteressant. So uninteressant wie sie selbst offenbar für Lukas. Aus der angeblich guten Gelegenheit zum ausführlichen Quatschen war bisher nichts geworden. Das lag nicht nur daran, dass sie zu unterschiedlichen Leistungsgruppen gehörten. Lukas schien ihr auch bei den Mahlzeiten und den Abendveranstaltungen sorgfältig auszuweichen. Die paar Worte beim gemeinsamen Küchendienst waren die ersten auf der ganzen Reise, die sie miteinander gewechselt hatten.
Anna seufzte. Wenn Lukas der Hauptgrund für ihre Teilnahme an dieser Skireise war, dann hätte sie ihr Geld wirklich besser anlegen können.
Bevor sie das Zimmer verließ, musterte sie sich noch einmal kritisch in dem jetzt frei gewordenen Spiegel über dem Waschbecken.
Der hellblaue Mohairpulli, den Feli ihr zugleich mit Skianzug, Handschuhen, Wollsocken, Mütze und Brille geschickt hatte, saß hauteng und war so weit ausgeschnitten, dass der Spitzenrand ihres BH darunter vorblitzte. Anna straffte die Schultern und zog den Ausschnitt etwas mehr nach oben.
Was meinst du, kann ich damit gehen?
Aber klar doch! , sagte Tanja. Das Ding steht dir super. Die Funke kriegt wahrscheinlich einen Herzkasper und lamentiert über den Verfall der guten Sitten. Aber die Jungs werden Augen machen. 

Die Disco war im Keller der Jugendherberge untergebracht. Man hörte sie schon im Parterre, das ersparte die Wegbeschreibung. Alle Discos sind laut, aber diese strebte mit guten Erfolgsaussichten den Rekord an. Der Lärm erfüllte den Tatbestand der Körperverletzung. Anna blieb am Eingang stehen und betrachtete die Tanzenden. Der wandernde Laserstrahl tauchte die Gesichter in fahles Blau. Die meisten der Tanzenden hielten die Augen geschlossen, die Köpfe pendelten wie in einer kollektiven Trance, die Körper zuckten im gleichen Rhythmus.
Anna fand kaum ein bekanntes Gesicht. Am vorigen Tag waren zwei neue Schulklassen aus Krefeld angekommen. Jemand fasste sie am Arm und zog sie mit auf die Tanzfläche. Es war Tom. Sie erkannte ihn an seinem Geruch, noch bevor sie ihn anschaute. Eine Mischung aus Zigarettenrauch und einem Herrenparfum, das nach leicht nach Leder und viel zu stark nach Moschus roch. An diesem Abend trug Tom ein weißes Muskelshirt und hautenge Jeans, ein völlig ungewohnter Anblick. Wie alle in der Klasse, kannte sie ihn nur im Schlabberlook.
Er sagte irgend etwas. Anna hob fragend die Schultern, sie verstand ihn nicht in diesem Höllenlärm.
Ich habe Klasse Speed, brüllte er dicht an ihrem Ohr, willst du welches?
Dieses Mal hatte sie ihn verstanden. Sie schüttelte den Kopf.
Warum nicht? Probier doch mal, das Zeug ist Spitze. Kostet auch nichts. Weil du es bist.
Nein! Ich will das nicht, sagte Anna. 

Die Musikauswahl war sehr begrenzt und blieb den ganzen Abend über annähernd gleich. Limp Bizkit, Staind, Linkin Park und Papa Roach wechselten sich ab. Anna fragte sich, ob Tom auch den Disjockey mit Speed versorgt hatte. Jedenfalls war das genau die Musik, die er mochte.
Nachdem sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, erkannte sie auch Einzelne auf ihrer Gruppe. Lukas tanzte mit Paula, mit Laura, dann wieder mit Paula.
Ich gehe mal für ne Weile raus, sagte Anna in einer der kurzen Pausen, hier fliegen mir gleich die Ohren weg. Vielleicht finde ich jemanden, der Lust auf eine Partie Billard hat.
Tom schien sie gar nicht zu hören. Er hatte die Augen halb geschlossen und bewegte sich noch immer im Rhythmus des längst beendeten letzten Songs. 

Der Billardraum befand sich in einem Anbau. Um ihn zu erreichen, musste man durch einen langen schlauchartigen Flur gehen, der in der Höhe der ersten Etage wie eine Brücke den alten mit dem neuen Teil des Hauses verband. Im diesem Neubau war die Verwaltung untergebracht, einige Vorrats- und Materialräume, ein Fitness-Raum, ein großer und zwei kleinere Konferenzräume und - ganz am Ende des Flurs - das Billardzimmer.
Anna tippte auf den Lichtschalter. Nach dem Lärm der Disco war es hier gespenstisch still. Die Büroräume waren längst verlassen und auch die Konferenzräume wurden so spät am Abend nicht mehr genutzt, die Tür zum Fitness-Raum stand offen. Hier war niemand. Auch das Billardzimmer war leer. Auf einem der Tische lag eine Illustrierte. Anna nahm sie mit als Lesestoff fürs Bett. Sie konnte bei geschlossenem Fenster schlecht einschlafen, aber die anderen drei protestierten lautstark, als sie versuchte hatte, wenigstens eines der Fenster nachts einen Spalt weit offen zu lassen.
Als sie die Tür zum Billardraum hinter sich zuzog und sich auf den Rückweg machte, sah sie am Ende des Gangs ganz kurz eine Silhouette auftauchen. Vielleicht fand sich ja doch noch ein Billardpartner. Anna zögerte einen Moment, aber der Mann war verschwunden. Sie hatte schon mehr als die Hälfte des Flurs hinter sich gebracht, als das Deckenlicht erlosch. Ein Zeitschalter, dachte sie. Sie ging langsam weiter, tastete sich an der Wand entlang und suchte dabei vergeblich nach einem Lichtschalter.
Kurz bevor sie mit ihm zusammenstieß, roch sie ihn. 

Tanja schlief. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Anna machte kein Licht. Der Widerschein der Leuchtpilze entlang der Auto-Auffahrt, reflektiert vom Schnee und unterstützt von einem fast vollen Mond, genügte, um das Zimmer in ein sanftes Halbdunkel zu tauchen. Anna zog sich aus. Sie legte ihre Sachen über die Stuhllehne. Felis Pulli war über der Brust eingerissen, der linke Träger des BH baumelte lose herunter. Sie schlüpfte aus Jeans und Slip, zog die Pyjamahose an und schlich zum Waschbecken. Die Seife und das kalte Wasser brannten auf ihren aufgeplatzten Lippen. Sie tastete vorsichtig über Gesicht und Hals. Die Stelle über dem rechten Jochbein schmerzte bei ihrer Berührung, dass die Lippe aufgeplatzt war, hatte sie schon an dem faden Blutgeschmack in ihrem Mund gemerkt. Am Ansatz der linken Brust fühlte sie eine Schwellung, und das Schlucken schmerzte so sehr, dass sie beschloss, sich heute nicht die Zähne zu putzen. Sie trocknete sich vorsichtig ab und betupfte den Mund mit einem Zellstofftuch. Der Riss in der Unterlippe blutete noch immer.
Erst als sie in ihrem Bett lag, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen und die Decke über den Kopf gezogen, begann sie zu weinen. 

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