Der
russische Dichter Graf Leo Tolstoi (1828-1910), Autor großer Romane der
Weltliteratur wie 'Krieg und Frieden', 'Anna Karenina' u. a. trat ebenfalls für
eine radikal wörtliche Befolgung der Bergpredigt ein, deren Kernaussage er in
dem Gebot: "Dem Bösen nicht Widerstand leisten" sah. Nach seiner
Bekehrung im Jahre 1882 versuchte er auf seinem Gutsbesitz Jasnaja Poljana ein
reines Urchristentum in Form einer ländlichen Genossenschaft zu begründen.
Als Tolstojaner lebten seine Anhänger in dieser Form weiter, bis ihre religiösen
ländlichen Genossenschaften mit der sowjetischen Kollektivierung des Jahres
1929 aufgehoben wurden.
Infolge seiner radikalen Kritik aller gesellschaftlichen Konventionen und des
sozialen Unrechts bekämpfte Tolstoi alle bestehenden politischen, sozialen und
kirchlichen Organisationen, so dass er 1901 aus der orthodoxen Kirche
ausgeschlossen wurde. In seinem Buch 'Worin besteht mein Glaube?' (deutsch 1885)
beschreibt er selbst seine Abkehr von den Kompromissen der weltlichen
Zivilisation:
"Aus
allen Evangelien trat mir stets als etwas Besonderes die Bergpredigt entgegen.
Und sie war es, die ich am häufigsten las. Nirgends spricht Christus mit
solcher Feierlichkeit wie hier, nirgends gibt er so viele sittliche, klare,
verständliche, jedem gerade zum Herzen redende Regeln, nirgends spricht er zu
einer größeren Masse allerhand gewöhnlicher Leute. Wenn es überhaupt klare,
bestimmte christliche Gesetze gibt, so müssen sie hier ausgesprochen worden
sein. (...)
Wenn ich diese Regeln
las, überkam mich stets eine freudige Gewissheit, ich könne sogleich, von
dieser Stunde an, alles das tun, was verlangt wird. Und ich wollte es tun und
versuchte es; kaum aber fühlte ich einen Kampf bei der Ausführung, so
erinnerte ich mich unwillkürlich der kirchlichen Lehre darüber, dass der
Mensch schwach sei und das nicht aus eignen Kräften vollbringen könne - und
ich wurde schwach. (...)
Wenn ein Mensch alle Kräfte seines Geistes
anwenden würde, um ein gegebenes Gesetz zu vernichten, was könnte dieser
Mensch Wirksameres zur Vernichtung jenes Gesetzes sagen als das, dass dieses
Gesetz seinem Wesen nach unausführbar sei und dass die Ansicht des Gesetzgebers
selbst über sein Gesetz die sei, dass dieses Gesetz nicht erfüllt werden könne
und dass zu dessen Erfüllung eine übernatürliche Hilfe erforderlich sei? -
Diesesselbe aber dachte ich in bezug auf das Gesetz: widerstrebet nicht dem Übel.
Und ich begann mich zu entsinnen, wie und wann mir der sonderbare Gedanke
gekommen, dass Christi Gebot zwar göttlich, dass es aber unmöglich sei, es zu
befolgen. Und nachdem ich meine Vergangenheit durchforscht, erkannte ich, dass
dieser Gedanke nie in seiner ganzen Nacktheit vor mir erstanden sei, sondern
dass ich, unbemerkt von mir selbst, ihn seit meiner frühesten Kindheit
eingesogen und dass mein ganzes bisheriges Leben diese sonderbare Verirrung in
mir nur bestärkt hatte."
Eine
häufig in der Kirchengeschichte auftretende Lösung des Bergpredigt-Problems
ist die schwärmerisch - enthusiastische, die noch in unserem Jahrhundert
von Leo Graf Tolstoi dem Älteren und z.T. von dem Religiösen Sozialismus
vertreten worden ist. Hier gilt die Bergpredigt als der Entwurf einer neuen
Gesellschaft der Liebe und des Friedens, des Reiches Christi auf Erden. Die
Gebote der Bergpredigt müssen wörtlich erfüllt werden, dann kann diese neue
Gesellschaft begründet werden. Staatliche Gewalt, Polizei und Heeresmacht,
Rechtsprechung und Rechtsordnung - das alles sind Einrichtungen, die beseitigt
werden müssen, damit das Endreich der Liebe, der Gerechtigkeit und
Vollkommenheit Platz bekommt. Dem gemäß hat die schwärmerische Auslegung oft
einen revolutionären Zug bekommen: räumt die ganze, alte Gesellschaft fort,
damit die Liebe herrschen kann. Es ist begreiflich, dass, eine solche Deutung
wieder gesetzliche Züge annehmen konnte, wenn doch die Bergpredigt als das
Grundgesetz der neuen Gesellschaft verstanden wurde. Das ist die extreme
Gegenposition gegen die Auffassung des Luthertums (...). Leo Tolstoi verstand
die Bergpredigt zudem als eine vernünftige Lebenslehre, mit deren Hilfe -
befolgt man sie wirklich - die Welt von ihren Übeln, einschließlich der Kirche
(!), befreit werden kann.
Die Schwärmer haben jedoch recht, wenn sie die Forderung des Tuns streng
aufrecht erhalten. Sie haben auch recht, wenn sie an die umgestaltende Kraft des
Reiches Gottes und der Liebe glauben, der alles bürgerlich gewordene
Kirchenchristentum nichts zutraut; man hat diese Angelegenheit der Diakonie übergeben.
Doch leider verfallen die Schwärmer der Utopie im negativen Sinne des Wortes.
Das Endreich Christi wird nicht durch die moralischen Taten der Christenheit
begründet. Die Schwärmer aller Zeiten haben die Macht des Bösen zu gering
eingeschätzt. Vollends ist die Negation und Zerstörung der Rechtsordnung kein
geeignetes Mittel, um den Frieden zu organisieren. Auf der anderen Seite haben
viele Schwärmer, zumal die Religiösen Sozialisten, richtig erkannt, dass es
Zustände der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung und der Entmenschlichung gibt,
welche die Liebe aufdecken und bekämpfen muss. Die besonders in der
lutherischen Ethik geübte Privatisierung der Bergpredigt, d. h. ihre Beschränkung
auf persönliche und familiäre Beziehungen, ist genauso falsch wie die schwärmerische
Ausweitung zu einem Sozialprogramm.
Julius Schniewind hat darauf hingewiesen, dass in
all den genannten Deutungen der Bergpredigt Wahrheitsmomente stecken. Dies ist
sicher richtig. Einige haben wir schon hervorgehoben. Es kommt in der Tat auf
das neue Herz ohne Zorn und Hass an; es kommt an auf das Tun der Liebe. Es
handelt sich bei Jesus um eine radikale Ethik, welche das Kommen der
Gottesherrschaft voraussetzt. Und diese kann man nicht in die Grenzen von
Einzelleben, Familie und Freundschaft einsperren, freilich auch nicht auf die
letzte Zeit begrenzen.
(Grundriss zum Neuen Testament. Hrsg. v. G. Friedrich. Ethik des Neuen
Testaments von H.- D. Wendland. Göttingen 1970.)
zurück zu: