Tolstoi,
Lew (Leo) Nikolajewitsch Graf, russischer Schriftsteller, *ÿJasnaja Poljana 9.ÿ9. 1828, ÿAstapowo 20.ÿ11. 1910, russischer Schriftsteller; Sohn eines Gutsbesitzers, verlor früh seine Eltern und wuchs unter der Obhut von Verwandten auf, studierte 1844þ47 orientalische Sprachen und Jura. 1851 trat er in die Armee ein und kämpfte im Kaukasus und auf der Krim (1854/55). Nach seinem Abschied (1855) lebte er teils auf seinem Gut Jasnaja Poljana, teils in Moskau und Sankt Petersburg. 1857 und 1860/61 bereiste er Westeuropa. 1862 heiratete er Sofja Andrejewna Bers (*ÿ1844, ÿ1919) und lebte nun ständig auf Jasnaja Poljana. Am 10.ÿ11. 1910 verließ Tolstoj, der unter dem Widerspruch zwischen seinen religiös-sozialen Ideen und seiner Stellung als wohlhabender Gutsbesitzer litt, die Familie, um sein Leben in asketischer Einsamkeit zu beschließen. Er starb auf der Reise.
Werke:
»Detstvo« (1852; deutsch »Kindheit«);
»Otrocestvo« (1854; deutsch »Knabenalter«);
»Junos« (1857; deutsch »Jugendzeit«;
»Kazaki« (begonnen 1852, veröffentlicht 1863; deutsch »Die Kosaken«);
»Sevastopolskie rasskazy« (1855 bis 1856; deutsch »Sewastopol«);
»Vojna i mir« (6ÿBände, 1868/69; deutsch
»Krieg und Frieden«);
»Anna Karenina« (3ÿBände, 1878; deutsch);
Tolstoj war ein typischer Vertreter des psychologischen Realismus, v.a. ein
Meister der präzisen, anschaulichen, farbigen und nuancenreichen Darstellung
der Natur und des Menschen, der die äußere Erscheinung ebenso scharf erfasste
wie seelische Vorgänge und der Massenszenen und dramatische Begebenheiten
ebenso beherrschte wie das Intime. Kennzeichnend für seine Werke ist die
mehrschichtige Komposition (zwei und mehr ineinander verflochtene
Parallelhandlungen). Meist geht es ihm weniger um das Schicksal von
Einzelpersonen als um das von Ehen und Familien, denn die Familie war für ihn
der Inbegriff des sittlichen Lebens.
Seit seiner »Bekehrung« (»Ispoved'«, 1884; deutsch »Meine Beichte«) suchte
Tolstoj in didaktischen und theoretischen Schriften seine sozialen und
künstlerischen Anschauungen darzustellen und zu begründen. In dieser letzten
Schaffensperiode entstanden Werke wie die Erzählungen
»Smert' Ivana Il'ica« (1886; deutsch »Der Tod des Iwan Ilitsch«);
»Krejcerova sonata« (1891; deutsch »Die Kreutzersonate«);
»Voskresenie« (1899; deutsch »Auferstehung«, 3ÿBände);
»Vlast' t'my«, (1886; deutsch »Die Macht der Finsternis«).
Tolstojs ständigem Suchen nach ethisch-religiöser Wahrheit
standen eine unerschöpfliche Vitalität und sinnenhafte Erdverbundenheit
gegenüber. Der Ethiker Tolstoj strebte nach der Unterordnung aller
Lebenserscheinungen unter strenge geistige und moralische Prinzipien. Der
Künstler ließ sich stets von neuem von der naturhaften Kraft und Schönheit
des Lebens hinreißen. Als scharfer, immer skeptischer Beobachter suchte er mit
schonungsloser Ehrlichkeit alles Unechte und Scheinhafte bei sich selbst und
anderen zu entlarven, wobei er sich bewusst gegen die herrschenden
Zeitströmungen stellte. Sein leidenschaftliches Temperament und sein Hang zu
geradlinigen, radikal vereinfachenden Formulierungen verleiteten ihn dabei oft
zu Übertreibungen, Paradoxien, Widersprüchen und Trugschlüssen. Seine Lehre
vom »Nichtwiderstehen dem Bösen« ist ein Ergebnis des Versuchs, aus dem sehr
einseitig verstandenen Evangelientext (Bergpredigt) ein reines Urchristentum zu
rekonstruieren. Durch die Idealisierung des naturnahen Lebens und des
»einfachen Volkes«, durch die Kritik der verlogenen gesellschaftlichen
Konvention und des sozialen Unrechts sowie durch ein tiefes Misstrauen gegen
alle intellektuellen Leistungen des Menschen gelangte Tolstoj zu einer Art
Kultur-Nihilismus, indem er den Fortschritt, den Sinn der geschichtlichen
Entwicklung, den Wert von Kunst und Wissenschaft und überhaupt jeder
intellektuellen Tätigkeit leugnete und jegliche politische, soziale und
kirchliche Organisation bekämpfte (1901 Ausschluss aus der orthodoxen Kirche).
Sein Anarchismus war aber niemals ein zynisches uneingeschränktes Verneinen;
dahinter stand immer ein tiefer Glaube an das Wirken Gottes in der Welt und das
Bemühen, das wahre göttliche Gesetz zu ergründen.
zurück zu