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Und hier ist die Fortsetzung:Kapitel 10
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Guten Tag Frau Ehlert, hier spricht
Annemarie Frederes. Ich rufe Sie an im Auftrag der Süddeutschen
Klassenlotterie. Wie ich sehe, haben Sie früher schon einmal bei uns
gespielt. Deshalb möchte ich fragen, ob wir Sie nicht wieder als Kundin
gewinnen..... Die Wirklichkeit sah anders aus. In
einer schlecht geheizten ehemaligen Lagerhalle saßen in vierzig
schmalen, nur durch dünne Stellwände abgeteilten Kabinen achtunddreißig
Frauen und zwei Männer. Am Anfang dachte sie, es keine Woche lang
auszuhalten. Vierzig telefonierende Stimmen, alle auf den Oberton äußerster
Freundlichkeit eingeschworen, machten einen solchen Lärm, dass sie kaum
ihre eigenen Worte verstand. Dazu kamen die ständig wechselnden
Kundenaufträge. An einem Vormittag warb sie um Spenden für eine
Internationale Tierschutz-Organisation. Da musste sie solche Sprüche
aufsagen wie: Sicher haben sie auch schon die Erfahrung gemacht, dass
ein Tier ein treuerer Freund sein kann als ein Mensch. Am nächsten Tag
behauptete sie, dass die Anschaffung eines Lexikons die beste
Investition in eine erfolgreiche berufliche Zukunft sei. Annemarie Frederes hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Durch Annas energisches Eingreifen war die beginnende manische Phase gerade noch rechtzeitig gestoppt worden. Ihre Tochter hatte das Richtige getan an diesem Neujahrsmorgen, sie wusste das. Wenn sie die verordneten Tabletten nicht nahm, würde sie wieder in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie landen: tobend, schreiend, die Ärzte und Schwestern beschimpfend, um sich schlagend, schließlich gebändigt, auf das Bett geworfen, festgeschnallt und an den Tropf angeschlossen. Sie kannte ihre Krankheit. Einige
Ärzte nannten sie Bipolare Störung. Diese Bezeichnung gefiel ihr. Sie
klang neutral und technisch und legte die Vermutung nahe, man müsse nur
einige Kontakte anschließen, ein paar Kabel richtig verbinden - und
schon sei alles in Ordnung. Andere Ärzte nannten ihre Krankheit
manische Depression. Das weckte unangenehmere Gedankenverbindungen. Ihnen würde ich nicht mal einen
Kaugummi abkaufen, sagte ihr Chef, als er wieder einmal wie aus dem
Nichts hinter ihrem Stuhl auftauchte. Das babylonische Stimmengewirr im
Raum verschluckte seine Schritte. Alle hassten seine schleichenden Überfälle. Die nächste Adresse. Sie verzog
mit Mühe die Mundwinkel. Anna wartete am Ausgang der Firma
auf sie. Entschuldigung, sagte Anna. Paula, im taillierten Gehrock in Fischgratmuster und der bodenlangen geschlitzten Palazzohose, die sie zum absoluten Muss der ganzen Clique erhoben hatte, starrte sie an wie ein Gespenst. Beruhige dich, dachte Anna, ich verrate dich doch nicht. |
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Kapitel 11
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Die
Entdeckung schockierte mich mehr, als ich wahr haben wollte. Natürlich
wusste ich, dass meine Mutter mit Ende Dreißig keine alte Frau war. Ich
wusste, dass sie ein Recht auf ein Privatleben, von mir aus auch ein
Liebesleben hatte. Und trotzdem! Meine Mutter in einem chat, flirtend
mit nicks wie EinsamER oder FrauenVerwöhner, bereit zu einem Treffen in
der Realität - was heißt zu einem - zu vielen... Wir waren knapp bei Kasse - wann
waren wir das nicht? Der zusätzliche Auftrag kam uns wie gerufen. Bei
einer Firma für Grafik-Design, für die meine Mutter früher einmal
kurz gearbeitet hatte, waren die kompletten Kundendateien abgestürzt.
Warum diese Leute sich nicht um Datensicherung gekümmert hatten, warum
es kein automatisches Backup gab - keine Ahnung. Für uns war es
jedenfalls ein Glücksfall. Meine Mutter bekam den Auftrag, Namen,
Adressen, vereinbarte Konditionen und alles, was sie aus den schriftlich
vorhandenen Unterlagen entnehmen konnte, neu in den Rechner einzugeben.
Es war ein Wust von Informationen, schlecht geordnet, zum Teil veraltet,
falsch abgeheftet. An jedem zweiten Tag brachte uns der Geschäftsführer
eine neue Kiste mit Aktenordnern und bat händeringend um möglichst
schnelle Erledigung. Meine Mutter tippte meistens etwa zwei Stunden lang. Dann machte sie eine Pause, rauchte eine Zigarette und schaute sich mit mir die Spätnachrichten im Fernsehen an. Nachdem ich mit einem Buch unter dem Arm zu Bett gegangen war, legte sie noch eine Nachtschicht ein. Wie lange die ging, wusste ich nicht. Aber als ich einmal gegen zwei Uhr nachts zur Toilette musste, saß sie immer noch vor dem flimmernden Bildschirm und arbeitete. Dachte ich. Ich hatte damals gerade den Mülleimer
ausgeleert, die Betten gemacht und die Wäsche auf die Leine gehängt.
Bevor ich mich zu den Hausaufgaben quälte, genehmigte ich mir selbst
eine Stunde Surfen im Internet. Als Motivationshilfe sozusagen. Willkommen im chat, hanum! Zur Zeit sind 2.693 Besucher online. Hanum? Den Namen kannte ich doch. Hanum war die Braut des jüngsten Prinzen, der tapferer und weiser war als seine beiden Brüder, und der am Ende das Reich erbte. Als wir zum ersten Mal zusammen im Urlaub nach Italien fuhren und ich schon nach einer knappen Stunde fragte, wann wir denn endlich da wären, kaufte mein Vater mir beim ersten Tankstop eine billige Märchenkassette. Ein Mann mit melodischem Großvater-Bass las Märchen der Völker. Das war alles. Keine verschiedenen Sprecher, keine Geräusche – nichts. Nur diese Stimme und zwischen den einzelnen Märchen eine kurze, sanfte Gitarrenmusik. Ich konnte mich nicht satt daran hören. Meine Eltern offenbar schon sehr bald. Aber es half ihnen nichts. Sie hatten die Wahl zwischen meinem wütenden Protestgeschrei und dem freundlichen Märchenonkel. Und so dudelte die Kassette ununterbrochen von Mainz bis nach Caorle. Auf dem Rückweg kaufte mein Vater gleich am Grenzübergang zur Schweiz zwei weitere Kassetten. Zur Abwechslung. Sie waren wesentlich besser gestaltet als die erste, das fiel sogar mir auf. Trotzdem hielt ich dem raunenden Opa die Treue. Ich wusste, dass ich jetzt sofort auf Logout drücken und das Programm beenden musste. Es war unfair, das Versehen meiner Mutter auszunutzen. Genau so unfair, wie heimlich in einem fremden Tagebuch zu lesen. Trotzdem klickte ich auf mails. hey süße,
war schön mit dir. bin mittwoch abend im chat oder im „Dionysos“,
ganz wie du willst. Mittwoch - das war heute. Mit „Dionysos“ würde es nichts werden. Der heutige Abend gehörte einer neuen Kiste voller Akten. Da blieb nur der chat nach Mitternacht.
Wann darf ich Sie denn wieder einmal verwöhnen, Madame? Hallo
hanum, ich habe gestern umsonst in der „Glocke“ auf dich gewartet.
Im chat hast du dauernd dein Dia gesperrt. Ich brauche das Geld jetzt
ganz dringend zurück. Am 30. ist Versammlung und Kassenprüfung!!!!.
Melde Dich endlich!!!!! Bruno – war das nicht der Typ, mit dem sie Silvester verbracht hatte?
Offenbar hatte sie Geld bei ihm ausgeliehen. Jetzt ging das schon wieder
los! Nach jeder manischen Phase tauchten völlig fremde Leute auf, die
ihre Kredite zurückforderten. Ich begriff nie, warum jemand einer Frau,
die er kaum kannte, soviel Geld auslieh. Dieser Bruno schien für sie
sogar in eine fremde Kasse gegriffen zu haben. Na, Mahlzeit! Hanum, meine Prinzessin, ich träume noch immer von dir und unserem kleinen Hotel. Erinnerst du dich? Ich
merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Jetzt endlich drückte ich
auf Logout und schloss die Seite. Hanum, die Märchenprinzessin – was
fiel ihr ein, ihre Spielchen ausgerechnet unter diesem Namen zu machen?
Hanum gehörte mir. Sie gehörte in die Zeit, als meine Eltern noch
verheiratet waren. Hanum gehörte zu dem raunenden Märchenopa, zu
meinem ersten Urlaub am Meer, zu Spaghetti und Kindheit. Ich ging in mein Arbeitszimmer und begann mit den Hausaufgaben. An diesem Tag hatte ich keine Lust mehr zum Surfen. |
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