Den vorherigen Textabschnitt nochmals nachlesen?

 

Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 10

 

Guten Tag Frau Ehlert, hier spricht Annemarie Frederes. Ich rufe Sie an im Auftrag der Süddeutschen Klassenlotterie. Wie ich sehe, haben Sie früher schon einmal bei uns gespielt. Deshalb möchte ich fragen, ob wir Sie nicht wieder als Kundin gewinnen.....
Wer zum Teufel spricht denn da?
Annemarie Frederes von der Süddeutschen Klassenlotterie.
Ich spiele kein Lotto! Grundsätzlich nicht!
Aber Sie haben früher einmal....
Nie! Hören Sie: Nie! Da würde ich mein Geld lieber gleich in den Rhein werfen, dann höre ich wenigstens noch, wie es plätschert.
Aber mit unserem neuen Kombi-Los sind jetzt die Gewinnchancen doppelt so groß wie...
Haben Sie was mit den Ohren, junge Frau? Ich spiele kein Lotto! Basta! Und ich verbitte mir in Zukunft solche Anrufe! Verstanden?
Der Hörer knallte auf die Gabel.
Blöde Kuh, murmelte Annemarie Frederes. Was war denn heute bloß wieder los mit den Leuten? Es gab immer einige, die ärgerlich auf die ungebetenen Telefonangebote reagierten, aber an diesem Vormittag waren es fast alle, die sie bisher angerufen hatte. Ob heute Vollmond war? Sie selbst glaubte ja nicht daran, aber ihre Kolleginnen schworen, dass es damit zu tun hatte.
Seit beinahe einem Jahr arbeitete sie jetzt in diesem Call-Center.
Eine ganz leichte Arbeit, etwas für Ungelernte, Hausfrauen, Schüler oder Studenten, hatte der Chef bei ihrer Einstellung gesagt. Sie machen einfach das, was sie sowieso gern tun: Sie telefonieren und bekommen auch noch Geld dafür.

Die Wirklichkeit sah anders aus. In einer schlecht geheizten ehemaligen Lagerhalle saßen in vierzig schmalen, nur durch dünne Stellwände abgeteilten Kabinen achtunddreißig Frauen und zwei Männer. Am Anfang dachte sie, es keine Woche lang auszuhalten. Vierzig telefonierende Stimmen, alle auf den Oberton äußerster Freundlichkeit eingeschworen, machten einen solchen Lärm, dass sie kaum ihre eigenen Worte verstand. Dazu kamen die ständig wechselnden Kundenaufträge. An einem Vormittag warb sie um Spenden für eine Internationale Tierschutz-Organisation. Da musste sie solche Sprüche aufsagen wie: Sicher haben sie auch schon die Erfahrung gemacht, dass ein Tier ein treuerer Freund sein kann als ein Mensch. Am nächsten Tag behauptete sie, dass die Anschaffung eines Lexikons die beste Investition in eine erfolgreiche berufliche Zukunft sei.
Heute war es also die Klassenlotterie.

Annemarie Frederes hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Durch Annas energisches Eingreifen war die beginnende manische Phase gerade noch rechtzeitig gestoppt worden. Ihre Tochter hatte das Richtige getan an diesem Neujahrsmorgen, sie wusste das. Wenn sie die verordneten Tabletten nicht nahm, würde sie wieder in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie landen: tobend, schreiend, die Ärzte und Schwestern beschimpfend, um sich schlagend, schließlich gebändigt, auf das Bett geworfen, festgeschnallt und an den Tropf angeschlossen.

Sie kannte ihre Krankheit. Einige Ärzte nannten sie Bipolare Störung. Diese Bezeichnung gefiel ihr. Sie klang neutral und technisch und legte die Vermutung nahe, man müsse nur einige Kontakte anschließen, ein paar Kabel richtig verbinden - und schon sei alles in Ordnung. Andere Ärzte nannten ihre Krankheit manische Depression. Das weckte unangenehmere Gedankenverbindungen.
Für sich selbst und vor allem für die kleine Anna hatte sie vor vielen Jahren das Bild eines Hauses erfunden. Es half ihr, dem Kind den jeweils aktuellen Zustand zu beschreiben.
Das gedachte Haus hatte zwei Stockwerke, einen Speicher, ein Souterrain und einen Keller. In den verschiedenen Stadien ihrer Krankheit bewohnte sie verschiedene Stockwerke und Räume. Am sichersten lebte es sich in der ersten Etage. Wenn sie dort wohnte, war Alltag, war alles im Gleichgewicht, waren Keller und Dachboden gleich weit entfernt.
Zum Beginn der Manie stieg sie hoch ins Dachgeschoss. Dort fühlte sie sich selbst am wohlsten, am lebendigsten. Der Blick war unverstellt, ging weit über das Land. Sie fühlte sich nah bei den Wolken und den Sternen und den Vögeln. Es war ihre beste Zeit, alles gelang ihr, sie machte Pläne, träumte von einer hellen Zukunft. Dann, ganz allmählich wuchs die Unruhe, der Wunsch nach Weite und nach Freiheit, nach Bewegung. Und eines unausweichlichen Tages war es, als stiege sie aus der Dachluke, balancierte auf dem First, glaubte, fliegen zu können, flog - und stürzte ab.
Im Augenblick bewohnte sie das Souterrain des Hauses, die Tür zum Keller stand schon offen.
Es war schwierig, die zahlreichen beruhigenden und aufhellenden Medikamente richtig zu dosieren, ihre Wechselwirkungen abzuschätzen und auszubalancieren. Dr. Roß versuchte sein Bestes, aber das genügte offenbar nicht.
Der Abstieg begann mit Müdigkeit. Sie schlief am hellen Tag, wann immer sich Zeit dazu fand. Trotzdem schaffte sie es morgens kaum aus dem Bett. Wenn Anna sie nicht unbarmherzig wachgerüttelt hätte, wäre sie einfach liegen geblieben. Die bleierne Müdigkeit verlangsamte ihre Reaktionen und verklebte ihr Gehirn. Alles war gleichgültig. Ob jemand dem Tierschutzverein beitrat oder ein Los der Klassenlotterie kaufte, was ging sie das an? Sie leierte ihren Text herunter, hörte selbst, wie flach und tonlos ihre Stimme klang und konnte es nicht ändern.
Das Grundgehalt in diesem Job war niedrig und ging von mindestens 400 Abschlüssen im Monat aus. Jeder weitere brachte eine Prämie von 2.50 Euro. In ihren guten Zeiten, wenn sie die obere Etage oder gar den Speicher bewohnte, verkaufte sie problemlos mehr als 500 Mitgliedschaften oder Lose, und das machte sich in der Haushaltskasse deutlich bemerkbar. In diesem Monat würde sie nicht einmal die Mindestzahl schaffen. Das durfte nicht zu oft vorkommen, sonst würde man sie entlassen.

Ihnen würde ich nicht mal einen Kaugummi abkaufen, sagte ihr Chef, als er wieder einmal wie aus dem Nichts hinter ihrem Stuhl auftauchte. Das babylonische Stimmengewirr im Raum verschluckte seine Schritte. Alle hassten seine schleichenden Überfälle.
Ich höre sie nicht lächeln, Frau Frederes, sagte er. Sie erinnern sich doch an unseren wichtigsten Merksatz: Wenn du lächelst, lächelt auch deine Stimme. Also bitte! Das kann doch nicht so schwer sein.

Die nächste Adresse. Sie verzog mit Mühe die Mundwinkel.
Guten Tag, Herr Mäurer, mein Name ist Annemarie Frederes. Ich rufe Sie an im Auftrag der Süddeutschen Klassenlotterie.
Habe ich was gewonnen?
Nein, Herr Mäurer, sie haben leider nichts gewonnen. Aber sie können etwas gewinnen. Mit unserem neuen Kombi-Los sind ihre Gewinnchancen sogar doppelt...
Augenblick mal, junge Frau! Woher haben sie eigentlich meinen Namen und meine Nummer? Dürfen sie so etwas überhaupt? Ist das nicht verboten? Verstößt das nicht gegen den Datenschutz? Wie war noch mal ihr Name? Ich werde mich beschweren, junge Frau!
Sie legte den Hörer auf.

Anna wartete am Ausgang der Firma auf sie.
Schön, dich zu sehen, Kind. Das war heute einer der Tage, die man aus dem Kalender streichen sollte. Jetzt fahren wir erst einmal zu deinem Vater, um den Koffer auszuleihen. Auf dem Rückweg kaufen wir noch zwei Zwiebelbaguettes und ein paar Flaschen Glühwein bei Aldi und machen uns einen gemütlichen Abend.
Normalerweise kauften sie in dem Discountmarkt gleich in der Nähe ihrer Wohnung ein. Dafür war es heute zu spät. Annas Vater wohnte etwa eine Autostunde entfernt. Bis sie zuhause ankamen, hatten die Geschäfte längst geschlossen. Frau Fenger hielt deshalb auf dem Rückweg bei einer Filiale, die etwa auf der Hälfte der Strecke lag.
Anna schob den Einkaufswagen. Als sie in den Gang mit den Tiefkühltruhen einbog, stieß sie mit einem entgegenkommenden Wagen so heftig zusammen, dass die gerade gekauften Glühweinflaschen klirrend umkippten.
Die Frau mit der viel zu krausen, viel zu blonden Dauerwelle, die den gegnerischen Wagen schob, war klein und ziemlich rund. Zu weißen Turnschuhen und einer dunkelblauen glänzenden Jogginghose mit zwei weißen Seitenstreifen trug sie einen zitronengelben XXL-Pullover mit einem springenden Delphin mitten auf der Brust.

Entschuldigung, sagte Anna.
Ist doch nix passiert, Kind, nicht mal Blechschaden, antwortete die Frau. Sie lachte. Der rechte obere Schneidezahn war abgebrochen und dunkel verfärbt. Und dann drehte sie sich um und sagte: Paula! Nimm noch zehn Dosen von den Ravioli. Die sind heute im Sonderangebot.

Paula, im taillierten Gehrock in Fischgratmuster und der bodenlangen geschlitzten Palazzohose, die sie zum absoluten Muss der ganzen Clique erhoben hatte, starrte sie an wie ein Gespenst.

Beruhige dich, dachte Anna, ich verrate dich doch nicht.

 

Kapitel 11

 

Die Entdeckung schockierte mich mehr, als ich wahr haben wollte. Natürlich wusste ich, dass meine Mutter mit Ende Dreißig keine alte Frau war. Ich wusste, dass sie ein Recht auf ein Privatleben, von mir aus auch ein Liebesleben hatte. Und trotzdem! Meine Mutter in einem chat, flirtend mit nicks wie EinsamER oder FrauenVerwöhner, bereit zu einem Treffen in der Realität - was heißt zu einem - zu vielen...
Das war einfach mehr, als ich mir vorstellen konnte und wollte.
Ich fand es durch einen dieser Zufälle heraus, die ich im Kino oder im Roman für schlecht konstruiert und unwahrscheinlich gehalten hätte.

Wir waren knapp bei Kasse - wann waren wir das nicht? Der zusätzliche Auftrag kam uns wie gerufen. Bei einer Firma für Grafik-Design, für die meine Mutter früher einmal kurz gearbeitet hatte, waren die kompletten Kundendateien abgestürzt. Warum diese Leute sich nicht um Datensicherung gekümmert hatten, warum es kein automatisches Backup gab - keine Ahnung. Für uns war es jedenfalls ein Glücksfall. Meine Mutter bekam den Auftrag, Namen, Adressen, vereinbarte Konditionen und alles, was sie aus den schriftlich vorhandenen Unterlagen entnehmen konnte, neu in den Rechner einzugeben. Es war ein Wust von Informationen, schlecht geordnet, zum Teil veraltet, falsch abgeheftet. An jedem zweiten Tag brachte uns der Geschäftsführer eine neue Kiste mit Aktenordnern und bat händeringend um möglichst schnelle Erledigung.
Meine Mutter kam abends erst gegen sechs Uhr von der Arbeit nach Hause. Meistens hatte ich dann schon den Tisch gedeckt. Wir aßen zusammen und redeten ein bisschen über Alltägliches, über Schule und Lehrer, über Call-Center, Kolleginnen und anschleichende Chefs. Danach spülte ich das Geschirr ab. Meine Mutter setzte sich an den Computer, und ich stellte ihr eine Kanne mit starkem, schwarzen Kaffee und ihren Becher mit der Tigerente neben die Tastatur. Den Becher hatte ich ihr zum Geburtstag geschenkt. Damals war ich in der zweiten Klasse und so verliebt in diese gelb-schwarz gestreifte Ente, dass mich ihre gleichmütig freundliche Reaktion auf dieses unschätzbares Geschenk bis ins Mark traf.

Meine Mutter tippte meistens etwa zwei Stunden lang. Dann machte sie eine Pause, rauchte eine Zigarette und schaute sich mit mir die Spätnachrichten im Fernsehen an. Nachdem ich mit einem Buch unter dem Arm zu Bett gegangen war, legte sie noch eine Nachtschicht ein. Wie lange die ging, wusste ich nicht. Aber als ich einmal gegen zwei Uhr nachts zur Toilette musste, saß sie immer noch vor dem flimmernden Bildschirm und arbeitete. Dachte ich.

Ich hatte damals gerade den Mülleimer ausgeleert, die Betten gemacht und die Wäsche auf die Leine gehängt. Bevor ich mich zu den Hausaufgaben quälte, genehmigte ich mir selbst eine Stunde Surfen im Internet. Als Motivationshilfe sozusagen.
Offenbar hatte meine Mutter vergessen, den Computer auszuschalten. Das kam öfter vor. Aber dieses Mal hatte sie auch versäumt, sich auszuloggen, denn als ich auf die Enter-Taste drückte, erschien auf dem Bildschirm die Startseite des chats.          

Willkommen im chat, hanum! Zur Zeit sind 2.693 Besucher online. 

Hanum? Den Namen kannte ich doch. Hanum war die Braut des jüngsten Prinzen, der tapferer und weiser war als seine beiden Brüder, und der am Ende das Reich erbte. Als wir zum ersten Mal zusammen im Urlaub nach Italien fuhren und ich schon nach einer knappen Stunde fragte, wann wir denn endlich da wären, kaufte mein Vater mir beim ersten Tankstop eine billige Märchenkassette. Ein Mann mit melodischem Großvater-Bass las Märchen der Völker. Das war alles. Keine verschiedenen Sprecher, keine Geräusche – nichts. Nur diese Stimme und zwischen den einzelnen Märchen eine kurze, sanfte Gitarrenmusik. Ich konnte mich nicht satt daran hören. Meine Eltern offenbar schon sehr bald. Aber es half ihnen nichts. Sie hatten die Wahl zwischen meinem wütenden Protestgeschrei und dem freundlichen Märchenonkel. Und so dudelte die Kassette ununterbrochen von Mainz bis nach Caorle. Auf dem Rückweg kaufte mein Vater gleich am Grenzübergang zur Schweiz zwei weitere Kassetten. Zur Abwechslung. Sie waren wesentlich besser gestaltet als die erste, das fiel sogar mir auf. Trotzdem hielt ich dem raunenden Opa die Treue.

Ich wusste, dass ich jetzt sofort auf Logout drücken und das Programm beenden musste. Es war unfair, das Versehen meiner Mutter auszunutzen. Genau so unfair, wie heimlich in einem fremden Tagebuch zu lesen. Trotzdem klickte ich auf mails.

hey süße, war schön mit dir. bin mittwoch abend im chat oder im „Dionysos“, ganz wie du willst.
EinsamER

Mittwoch - das war heute. Mit „Dionysos“ würde es nichts werden. Der heutige Abend gehörte einer neuen Kiste voller Akten. Da blieb nur der chat nach Mitternacht.

           Wann darf ich Sie denn wieder einmal verwöhnen, Madame?
           FrauenVerwöhner

Hallo hanum, ich habe gestern umsonst in der „Glocke“ auf dich gewartet. Im chat hast du dauernd dein Dia gesperrt. Ich brauche das Geld jetzt ganz dringend zurück. Am 30. ist Versammlung und Kassenprüfung!!!!. Melde Dich endlich!!!!!
-bruno-

Bruno – war das nicht der Typ, mit dem sie Silvester verbracht hatte? Offenbar hatte sie Geld bei ihm ausgeliehen. Jetzt ging das schon wieder los! Nach jeder manischen Phase tauchten völlig fremde Leute auf, die ihre Kredite zurückforderten. Ich begriff nie, warum jemand einer Frau, die er kaum kannte, soviel Geld auslieh. Dieser Bruno schien für sie sogar in eine fremde Kasse gegriffen zu haben. Na, Mahlzeit!
Das wird Ärger geben, mein lieber Bruno, dachte ich. Bei uns ist nämlich nichts zu holen.
Ich klickte auf die nächste mail:

Hanum, meine Prinzessin, ich träume noch immer von dir und unserem kleinen Hotel. Erinnerst du dich?

Ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Jetzt endlich drückte ich auf Logout und schloss die Seite. Hanum, die Märchenprinzessin – was fiel ihr ein, ihre Spielchen ausgerechnet unter diesem Namen zu machen? Hanum gehörte mir. Sie gehörte in die Zeit, als meine Eltern noch verheiratet waren. Hanum gehörte zu dem raunenden Märchenopa, zu meinem ersten Urlaub am Meer, zu Spaghetti und Kindheit.
Zum Teufel, warum fiel ihr kein passenderer nick für diese Kerle ein?

Ich ging in mein Arbeitszimmer und begann mit den Hausaufgaben. An diesem Tag hatte ich keine Lust mehr zum Surfen.

nach oben

zurück zu:
Text 12 und 13
Startseite Schäferstündchen            Titelseite *Anna