Den vorherigen Textabschnitt nochmals nachlesen?

 

Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 8

 

Gegen halb acht am Abend hatte der Raum „SchülerInnenhilfe“ nur fünf Besucher. Ich ging die nicks durch, sie waren alphabetisch geordnet. Nonverbal war nicht dabei, dafür aber darkangel und MikeNRW - die beiden kannte ich ja schon.

Penthesilea: hallo - war nonverbal schon da?
darkangel: nööö
twister: vor acht kommt sie selten
MikeNRW: sie? ist nonverbal w?
twister: ist sie nicht?
darkangel: keine ahnung
twister: was haste denn für ein problem, penthe?
Penthesilea: ich suche was über Ritter Harolds Pilgerfahrt - ein Stück von Byron
(*wanderer betritt den Raum)
Lucy: hast du schon mal bei google gesucht?
Penthesilea: die haben nichts Gescheites
darkangel: hm
MikeNRW: wie alt biste eigentlich, Penthe?
Penthesilea: 17
MikeNRW: passt genau, haste lust auf ein scharfes dia?
Penthesilea: nein, lass mal, Mike, kein Bedarf

Ich klickte auf das Forum Gedichte. Das machte ich fast immer zu Anfang und zum Ende meiner Chat-Sessions. Es gab eine Menge Schrott dort, jede Menge Blut, Eis, Tränen und schwarze Kerzen in Gedichten, die von nicks geschrieben waren, die überwiegend mit dark begannen. Ich fuhr mit dem cursor die Titel entlang. Mann im Mond - das hörte sich interessant an:

            Mann im Mond

Ich kaufte mir eine Reise auf den Mond,
damit ich über meine Fehler lachen kann,
die ich von hier oben sehe, als ob sie mich nichts angingen.
Leider war es ein Ticket für nur eine Person,
so dass mein Körper unten bleiben musste.
Von dieser Perspektive sieht alles einfach nur dumm und lächerlich aus.
Keiner kann mir hier oben etwas anhaben.
Ich bin unnahbar.
Für die Menschen, die ich hasse
Und die ich liebe...
Laa Lee Luu, nur der Mann im Mond.
(Alexneo  - Alexander Fuhrmann)

Laa Lee Luu, nur der Mann im Mond schaut zu - das war doch ein Lied, ein Schlager oder so etwas ähnliches. Unnahbar für die Menschen, die ich hasse und die ich liebe ... das Gefühl kannte ich gut.
Auf meinem Bildschirm öffnete sich ein Fenster. Ich hatte es schon befürchtet.
            darkangel: hi, penthesilea, bist du bereit für die offenbarung?
            Penthesilea: Nein, das weißt du doch!
            darkangel: aber ich  werde sie dir bringen
            Penthesilea: Sei so nett und verschwinde, darkangel!
            darkangel: du kannst mir nicht entkommen
            Penthesilea: Ich kann meinen PC ausschalten.
            darkangel: dann verfolge ich dich bis in deine geheimsten Träume
            Penthesilea: Ja, ja, ist schon gut, Darki!
            darkangel: ich bin immer in deiner nähe ... nicht nur im chat

Wie kriegte ich den Kerl los, ohne offline zu gehen? Ich wartete ja auf nonverbal; er war immer noch nicht im Raum. Ich klickte auf das kleine x in der rechten oberen Ecke, und das Dia verschwand. Na prima.
Ich wollte gerade zurück zum Forum „Gedichte“, als sich ein neues Fenster öffnete:

*wanderer: hallo, penthe, auch mal wieder da?
Penthesilea: Hm - kennen wir uns?
*wanderer: ja klar, ich bin coolhasi15
Penthesilea: Und warum heißt du jetzt Wanderer?
*wanderer: das ist mein anderer nick, hast du keinen zweiten?
Penthesilea: Nein, ich bin ja nicht mal registriert
*wanderer: axo, warum eigentlich nicht?
Penthesilea: Keine Ahnung, sollte ich das machen?
*wanderer: klar, dann kannst du hier mails bekommen und verschicken, du kannst in die foren schreiben, du kannst sehen, ob deine Freunde online sind....
Penthesilea: Ok, ich denke drüber nach, aber warum braucht man zwei nicks?
*wanderer: braucht man nicht, kann aber ganz praktisch sein
Penthesilea: Wieso?
*wanderer: unter coolhasi15 fragen mich die typen dauernd nach ts und cs und so nen kram, unter *wanderer kann ich die mädchen anbaggern, das ist total witzig *gg
Penthesilea: Kennst du diesen MikeNRW?
*wanderer: ja, ein echter freak, den triffst du hier tag und nacht, sei vorsichtig mit dem
Penthesilea: Warum?
*wanderer: der fragt sofort nach handy-nr., adresse oder nem realen date
Penthesilea: Hast du schlechte Erfahrungen mit ihm?
*wanderer: *lach, dazu geb ich dem gar keine gelegenheit
Penthesilea: Entschuldige, aber nonverbal ist online, ich muss sie dringend was fragen. Mach’s gut, coolhasi!
*wanderer: ok, tschüs penthe und schönen gruß an non, der typ ist voll in ordnung

Coolhasi hatte Recht. Nonverbal war eine Offenbarung. Ich schilderte mein Problem, sie stellte zwei präzise Nachfragen und versprach mir noch für den gleichen Abend eine Nachricht. Die e-mail kam gegen zehn Uhr, sie enthielt einen Gutenachtgruß und als Anhang einen Text von dreiundzwanzig Seiten mit vorausgehender Gliederung und jeder Menge links und Literaturangaben. Das war viel mehr Stoff, als ich brauchte; das artete ja schon in Arbeit aus. Ich legte mich ins Bett, stopfte mir das Kopfkissen in den Nacken und las das Ganze erst einmal langsam durch. Am nächsten Tag würde ich es zusammenfassen, ein paar links im Netz anklicken und alles auf zwei Din-A4-Seiten eindampfen. Hirte würde staunen.

 

 

Kapitel 9

 

Uiiii, ist das heiß! Jonas zog mit aufgerissenem Mund hechelnd die Luft ein. Warum kann ich mir das nicht endlich merken? Lasagne ist ein heimtückisches Gebilde, erfunden von hinterlistigen Italienern, um harmlosen Deutschen die Zunge zu verbrennen.
Nimm einen Schluck Wasser, sagte seine Mutter, und schling’ nicht so, Junge. Heute haben wir doch Zeit.
Von wegen Zeit. Ich muss gleich wieder weg. Handballtraining. Morgen Nachmittag spielen wir gegen die Jungs aus Weilerswist. Da geht was ab. Da können wir uns jetzt schon warm anziehen. Übrigens - ist mein Trikot trocken?
Liegt schon auf deinem Bett.
Danke, Mum, du bist die Beste!
Sein Vater schnalzte missbilligend mit der Zunge:
Kannst du den Handballverein nicht bis zum Abitur auf Sparflamme schalten oder besser noch ganz ruhen lassen?, sagte er. Meiner Meinung nach solltest du dich statt dessen intensiv um deinen Mathematik-Grundkurs kümmern. Da sieht es für dich gar nicht rosig aus, sagte mir gestern der Kollege Hendrichs.
Das ist doch zum Auswachsen, stöhnte Jonas, Lehrerkinder sollten unter den Schutz für gefährdete Arten gestellt werden. Wenn du zum Beispiel Portier beim Hotel Filser wärst, würde dich mein Mathelehrer etwa anrufen, um dir mitzuteilen, dass meine letzte Arbeit knapp daneben war? Nein, würde er nicht! Dürfte er auch gar nicht, von wegen Datenschutz. Aber wenn er den Kollegen Hirte im Lehrerzimmer trifft, dann hat er nichts Besseres zu tun als zu tratschen.
Jonas holte tief Luft und pustete auf die nächste Gabel Lasagne. Dieses Gespräch lief eindeutig in die falsche Richtung.
Wo wir gerade von deinen Kollegen sprechen, Vater, der Katschnig hat mich gefragt, ob ich als Betreuer mit nach Oberstdorf fahren will. Ihm fehlt noch jemand, der sich um die Anfänger kümmert.
Wie bitte? Dr. Hirte verschluckte sich fast an seinem Ruccolasalat. Nach Oberstdorf? Als Betreuer? Ja, ist der Mann denn noch ....? Zehn ganze Tage versäumter Unterricht! Und das so kurz vor dem Abitur. Das kommt überhaupt nicht in Frage!
Langsam, langsam, sagte Jonas. Erstens ist ein Wochenende dazwischen, zweitens fallen wegen Karneval zwei weitere Tage aus, also nur noch sechs versäumte Schultage, drittens hole ich den Stoff spielend nach und viertens ... ich habe dem Katschnig schon zugesagt.
Dann ziehst du deine Zusage eben wieder zurück! Und zwar sofort! Ich verbiete dir diesen Unfug!
Darf ich dich noch einmal daran erinnern, dass ich volljährig bin?, sagte Jonas leise.
Und darf ich daran erinnern, dass der numerus clausus für Psychologie bei 1,2 liegt?, schrie sein Vater. Wenn du Mathe versiebst, kannst du dich gleich auf die Warteliste setzen lassen.
Na und?, sagte Jonas. Wäre das so schlimm? Dann mache ich in dieser Zeit meinen Zivildienst. Oder kannst du es nicht ertragen, wenn dein Jüngster kein Einser-Abi baut wie der geniale große Bruder? Mir hängt diese Notenprotzerei so zum Hals raus. Bloß weil du ein Superlehrer bist, muss ich kein Musterschüler sein.
Dr. Hirte schob seinen Teller zurück und stand auf.
Tut mir leid, Regine, sagte er, aber ich habe keinen Appetit mehr. Vielleicht kannst du es mir zum Abend noch einmal aufbacken.
Er verließ den Raum. Tina, die Dalmatinerhündin, die wie immer unter seinem Stuhl gelegen hatte, folgte ihm auf den Fersen. Sie hörten, wie er die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinaufstieg.
Fällt dir auf, dass in der letzten Zeit fast jede unserer Mahlzeiten im Streit endet?, fragte Frau Hirte.
Sorry, Mum, aber fällt dir auch auf, dass er mich immer noch wie ein kleines Kind behandelt?
Er meint es doch nur gut mir dir, Junge. Er ist so stolz auf seine Söhne.
Stolz?, sagte Jonas. Ist das nicht etwas zu wenig?
Dein Vater hat ja auch nicht ganz unrecht, sagte sie. Du hast den Handballverein, du jobbst bei diesem Pizzadienst - und jetzt auch noch die Fahrt nach Oberstdorf. Ich verstehe gar nicht, warum du dem Katschnig zugesagt hast. Du gehörst doch sonst nicht zum Fanclub dieses Sportfuzzys.
Jonas schob die Unterlippe vor und drehte die dichten braunen Locken über seiner Stirn zu kleinen Kordeln. Das machte er immer, wenn er verlegen war.
Nun sag es schon, Junge! Was ist los?
Kannst du schweigen, Mum?
Wie ein ägyptisches Pharaonengrab, das weißt du doch.
Also, das ist so, murmelte Jonas, bei diesem Skikurs ist ein Mädchen .... ich weiß nicht mal, wie sie mit Vornamen heißt ... aber die hat was ... ich meine, die könnte ....
Schon verstanden, Kleiner, sagte seine Mutter. Du musst übrigens dringend zum Friseur. Und zieh nicht wieder diesen unsäglichen schwarzen Mantel an. So wie der mit dem Saum den Boden fegt, muss der endlich mal in die Reinigung, der setzt ja schon Grünspan an.
Ok, Mum! Jonas beugte sich hinunter und küsste seine Mutter flüchtig auf die Wange. Bis heute Abend dann!

Frau Hirte räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Diese Streitereien zerrten an ihren Nerven. Sie stand immer dazwischen. Jeder von beiden hatte auf seine Weise Recht, und beide erwarteten von ihr, dass sie Partei ergriff. Aber für wen? Es wurde höchste Zeit, dass der Junge von der Leine kam. Zwei Pädagogen in einem Haushalt, konzentriert auf ein erwachsenes Kind - das war einfach zuviel. Den Zivildienst könnte er wahrscheinlich noch von zu Hause aus ableisten. Das wäre nicht gut. Sie hoffte inständig, dass er den erträumten Studienplatz in München bekam. In der WG, in der sein Bruder Tobias lebte, wurde zum Wintersemester ein Zimmer frei. Natürlich würde sie ihren Kleinen vermissen. Schrecklich sogar. Und ihr Mann noch mehr.
Sie goss Wasser in die Espressomaschine, füllte den Siebeinsatz bis zum Rand mit Kaffeemehl und drehte ihn in die Halterung. Dann holte sie die beiden alten Mokkatassen aus dem Schrank. Ihr Mann und sie hatten sie auf einem Trödelmarkt in Antwerpen gekauft. Wie lange war das schon her. Sie waren sehr jung damals, sehr verliebt und sehr naiv. Der belgische Händler hatte ihnen erzählt, es handle sich um original japanisches Inari-Porzellan aus dem 17. Jahrhundert. Sie hatten nie davon gehört und waren sehr beeindruckt. Die beiden fast durchscheinenden Tässchen aus milchigweißem Porzellan waren mit exquisiten asymmetrischen Mustern in leuchtenden Farben bemalt. Der absolute Sonderpreis, den der Händler ihnen angeblich einräumte, überschritt bei weitem ihre finanziellen Möglichkeiten. Als sie sich schon mit Bedauern zum Gehen wendeten, rief der Händler sie noch einmal zurück. Wie viel sie denn zahlen könnten, wollte er wissen. Sie hatten ihre Geldbörsen auf dem mit einem Stück dunkelrotem Samt bedeckten Tapeziertisch ausgeleert und das Geld für die Rückfahrt am Abend und für zwei Portionen Frites mit Majonäse abgezogen. Der Händler zog das Geld zu sich herüber, zögerte einen Moment und schob ihnen dann ein paar Münzen zurück. Trinken Sie davon auf dem Grote Markt einen Kaffee und einen Genever auf mein Wohl und auf ihr Glück, sagte er und verpackte die hauchzarten Tassen zuerst in Seiden- und dann in kräftiges Zeitungspapier.
Die Tassen begleiteten sie. Sie zogen mit ihnen aus dem Studentenwohnheim in ihre erste gemeinsame Einzimmerwohnung mit dem fensterlosen winzigen Bad und der Küche, die 1,60 m breit und 4,30 m lang war, sie zogen mit in die großzügige Dreizimmer-Etage in der Klarastraße und standen jetzt im oberen Fach der Aufsatzvitrine im Wohnzimmer ihres eigenen Hauses. Bei jedem Umzug hatte sie die Tassen selbst verpackt, wie es der Händler auf dem Antwerpener Trödelmarkt machte: zuerst in Seidenpapier, dann in eine dicke Schicht Zeitungspapier. Sie waren ihr wie ein Talisman, wie ein Symbol für die Einmaligkeit und die Zerbrechlichkeit ihrer Liebe erschienen.
Inzwischen wusste sie, dass es sich nicht um Originale, sondern um gut gemachte Imitationen aus der Massenproduktion des 19. Jahrhunderts handelte - und dennoch: die beiden Tassen bewahrten etwas von der Magie des Anfangs.
Frau Hirte stellte eine Zuckerdose, eine kleine Schale mit Mandelmakronen und die beiden zur Hälfte gefüllten Tassen auf ein Lacktablett und stieg die Treppe zum Arbeitszimmer hinauf.
Ihr Mann saß vor dem Computer. Er drehte nur kurz den Kopf, als sie eintrat und bearbeitete dann weiter die Tastatur.
Wie wäre es mit einem Antwerpener Versöhnungsschluck, sagte sie und schaute ihm über die Schulter. Woran arbeitest du?
Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch und las den Textausschnitt auf dem Monitor.
Sag mal - das sind ja wir, die du da beschreibst! Jedenfalls beinahe. Was soll denn das werden?
Ihr Mann drehte seinen Drehstuhl zu ihr herum und zog sie auf seine Knie.
Ich habe dir doch vor ein paar Wochen von diesem Online-Schreibexperiment erzählt, sagte er. Erinnerst du dich? Das Projekt, an dem ich mit einigen Schülern und mit dieser Autorin arbeite. Das hier ist mein Personenprofil. Sie wird mich unter meinem nick und vielleicht auch als reale Person in die Handlung einarbeiten. Ist doch ein interessanter Versuch, findest du nicht?
Ich weiß nicht, sagte seine Frau, diese Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion, von Beruf und Privatleben - ich bin nicht sicher, ob das gut ist. Und außerdem: Hast du nicht schon genug Arbeit? Musst du dir so etwas auch noch aufhalsen lassen? Bis in die halbe Nacht arbeitest du an dem Zeug. Diese Büchertante macht es sich sehr einfach. Ihr liefert ihr den Stoff, die Personenprofile und den Internet-Auftritt - ich weiß wirklich nicht, ob mir das gefällt.

Ach komm schon, Regine, sollte das nicht ein Antwerpener Versöhnungsschluck werden? Er reichte ihr die Mokkatasse und stieß lächelnd mit ihr an.
Auf das Leben, sagte er.

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