Uiiii, ist das heiß! Jonas zog mit
aufgerissenem Mund hechelnd die Luft ein. Warum kann ich mir das nicht
endlich merken? Lasagne ist ein heimtückisches Gebilde, erfunden von
hinterlistigen Italienern, um harmlosen Deutschen die Zunge zu
verbrennen.
Nimm einen Schluck Wasser, sagte seine Mutter, und schling’ nicht so,
Junge. Heute haben wir doch Zeit.
Von wegen Zeit. Ich muss gleich wieder weg. Handballtraining. Morgen
Nachmittag spielen wir gegen die Jungs aus Weilerswist. Da geht was ab.
Da können wir uns jetzt schon warm anziehen. Übrigens - ist mein
Trikot trocken?
Liegt schon auf deinem Bett.
Danke, Mum, du bist die Beste!
Sein Vater schnalzte missbilligend mit der Zunge:
Kannst du den Handballverein nicht bis zum Abitur auf Sparflamme
schalten oder besser noch ganz ruhen lassen?, sagte er. Meiner Meinung
nach solltest du dich statt dessen intensiv um deinen
Mathematik-Grundkurs kümmern. Da sieht es für dich gar nicht rosig
aus, sagte mir gestern der Kollege Hendrichs.
Das ist doch zum Auswachsen, stöhnte Jonas, Lehrerkinder sollten unter
den Schutz für gefährdete Arten gestellt werden. Wenn du zum Beispiel
Portier beim Hotel Filser wärst, würde dich mein Mathelehrer etwa
anrufen, um dir mitzuteilen, dass meine letzte Arbeit knapp daneben war?
Nein, würde er nicht! Dürfte er auch gar nicht, von wegen Datenschutz.
Aber wenn er den Kollegen Hirte im Lehrerzimmer trifft, dann hat er
nichts Besseres zu tun als zu tratschen.
Jonas holte tief Luft und pustete auf die nächste Gabel Lasagne. Dieses
Gespräch lief eindeutig in die falsche Richtung.
Wo wir gerade von deinen Kollegen sprechen, Vater, der Katschnig hat
mich gefragt, ob ich als Betreuer mit nach Oberstdorf fahren will. Ihm
fehlt noch jemand, der sich um die Anfänger kümmert.
Wie bitte? Dr. Hirte verschluckte sich fast an seinem Ruccolasalat. Nach
Oberstdorf? Als Betreuer? Ja, ist der Mann denn noch ....? Zehn ganze
Tage versäumter Unterricht! Und das so kurz vor dem Abitur. Das kommt
überhaupt nicht in Frage!
Langsam, langsam, sagte Jonas. Erstens ist ein Wochenende dazwischen,
zweitens fallen wegen Karneval zwei weitere Tage aus, also nur noch
sechs versäumte Schultage, drittens hole ich den Stoff spielend nach
und viertens ... ich habe dem Katschnig schon zugesagt.
Dann ziehst du deine Zusage eben wieder zurück! Und zwar sofort! Ich
verbiete dir diesen Unfug!
Darf ich dich noch einmal daran erinnern, dass ich volljährig bin?,
sagte Jonas leise.
Und darf ich daran erinnern, dass der numerus clausus für Psychologie
bei 1,2 liegt?, schrie sein Vater. Wenn du Mathe versiebst, kannst du
dich gleich auf die Warteliste setzen lassen.
Na und?, sagte Jonas. Wäre das so schlimm? Dann mache ich in dieser
Zeit meinen Zivildienst. Oder kannst du es nicht ertragen, wenn dein Jüngster
kein Einser-Abi baut wie der geniale große Bruder? Mir hängt diese
Notenprotzerei so zum Hals raus. Bloß weil du ein Superlehrer bist,
muss ich kein Musterschüler sein.
Dr. Hirte schob seinen Teller zurück und stand auf.
Tut mir leid, Regine, sagte er, aber ich habe keinen Appetit mehr.
Vielleicht kannst du es mir zum Abend noch einmal aufbacken.
Er verließ den Raum. Tina, die Dalmatinerhündin, die wie immer unter
seinem Stuhl gelegen hatte, folgte ihm auf den Fersen. Sie hörten, wie
er die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinaufstieg.
Fällt dir auf, dass in der letzten Zeit fast jede unserer Mahlzeiten im
Streit endet?, fragte Frau Hirte.
Sorry, Mum, aber fällt dir auch auf, dass er mich immer noch wie ein
kleines Kind behandelt?
Er meint es doch nur gut mir dir, Junge. Er ist so stolz auf seine Söhne.
Stolz?, sagte Jonas. Ist das nicht etwas zu wenig?
Dein Vater hat ja auch nicht ganz unrecht, sagte sie. Du hast den
Handballverein, du jobbst bei diesem Pizzadienst - und jetzt auch noch
die Fahrt nach Oberstdorf. Ich verstehe gar nicht, warum du dem
Katschnig zugesagt hast. Du gehörst doch sonst nicht zum Fanclub dieses
Sportfuzzys.
Jonas schob die Unterlippe vor und drehte die dichten braunen Locken über
seiner Stirn zu kleinen Kordeln. Das machte er immer, wenn er verlegen
war.
Nun sag es schon, Junge! Was ist los?
Kannst du schweigen, Mum?
Wie ein ägyptisches Pharaonengrab, das weißt du doch.
Also, das ist so, murmelte Jonas, bei diesem Skikurs ist ein Mädchen
.... ich weiß nicht mal, wie sie mit Vornamen heißt ... aber die hat
was ... ich meine, die könnte ....
Schon verstanden, Kleiner, sagte seine Mutter. Du musst übrigens
dringend zum Friseur. Und zieh nicht wieder diesen unsäglichen
schwarzen Mantel an. So wie der mit dem Saum den Boden fegt, muss der
endlich mal in die Reinigung, der setzt ja schon Grünspan an.
Ok, Mum! Jonas beugte sich hinunter und küsste seine Mutter flüchtig
auf die Wange. Bis heute Abend dann!
Frau Hirte räumte das Geschirr in
die Spülmaschine. Diese Streitereien zerrten an ihren Nerven. Sie stand
immer dazwischen. Jeder von beiden hatte auf seine Weise Recht, und
beide erwarteten von ihr, dass sie Partei ergriff. Aber für wen? Es
wurde höchste Zeit, dass der Junge von der Leine kam. Zwei Pädagogen
in einem Haushalt, konzentriert auf ein erwachsenes Kind - das war
einfach zuviel. Den Zivildienst könnte er wahrscheinlich noch von zu
Hause aus ableisten. Das wäre nicht gut. Sie hoffte inständig, dass er
den erträumten Studienplatz in München bekam. In der WG, in der sein
Bruder Tobias lebte, wurde zum Wintersemester ein Zimmer frei. Natürlich
würde sie ihren Kleinen vermissen. Schrecklich sogar. Und ihr Mann noch
mehr.
Sie goss Wasser in die Espressomaschine, füllte den Siebeinsatz bis zum
Rand mit Kaffeemehl und drehte ihn in die Halterung. Dann holte sie die
beiden alten Mokkatassen aus dem Schrank. Ihr Mann und sie hatten sie
auf einem Trödelmarkt in Antwerpen gekauft. Wie lange war das schon
her. Sie waren sehr jung damals, sehr verliebt und sehr naiv. Der
belgische Händler hatte ihnen erzählt, es handle sich um original
japanisches Inari-Porzellan aus dem 17. Jahrhundert. Sie hatten nie
davon gehört und waren sehr beeindruckt. Die beiden fast
durchscheinenden Tässchen aus milchigweißem Porzellan waren mit
exquisiten asymmetrischen Mustern in leuchtenden Farben bemalt. Der
absolute Sonderpreis, den der Händler ihnen angeblich einräumte, überschritt
bei weitem ihre finanziellen Möglichkeiten. Als sie sich schon mit
Bedauern zum Gehen wendeten, rief der Händler sie noch einmal zurück.
Wie viel sie denn zahlen könnten, wollte er wissen. Sie hatten ihre
Geldbörsen auf dem mit einem Stück dunkelrotem Samt bedeckten
Tapeziertisch ausgeleert und das Geld für die Rückfahrt am Abend und für
zwei Portionen Frites mit Majonäse abgezogen. Der Händler zog das Geld
zu sich herüber, zögerte einen Moment und schob ihnen dann ein paar Münzen
zurück. Trinken Sie davon auf dem Grote Markt einen Kaffee und einen
Genever auf mein Wohl und auf ihr Glück, sagte er und verpackte die
hauchzarten Tassen zuerst in Seiden- und dann in kräftiges
Zeitungspapier.
Die Tassen begleiteten sie. Sie zogen mit ihnen aus dem
Studentenwohnheim in ihre erste gemeinsame Einzimmerwohnung mit dem
fensterlosen winzigen Bad und der Küche, die 1,60 m breit und 4,30 m
lang war, sie zogen mit in die großzügige Dreizimmer-Etage in der
Klarastraße und standen jetzt im oberen Fach der Aufsatzvitrine im
Wohnzimmer ihres eigenen Hauses. Bei jedem Umzug hatte sie die Tassen
selbst verpackt, wie es der Händler auf dem Antwerpener Trödelmarkt
machte: zuerst in Seidenpapier, dann in eine dicke Schicht
Zeitungspapier. Sie waren ihr wie ein Talisman, wie ein Symbol für die
Einmaligkeit und die Zerbrechlichkeit ihrer Liebe erschienen.
Inzwischen wusste sie, dass es sich nicht um Originale, sondern um gut
gemachte Imitationen aus der Massenproduktion des 19. Jahrhunderts
handelte - und dennoch: die beiden Tassen bewahrten etwas von der Magie
des Anfangs.
Frau Hirte stellte eine Zuckerdose, eine kleine Schale mit
Mandelmakronen und die beiden zur Hälfte gefüllten Tassen auf ein
Lacktablett und stieg die Treppe zum Arbeitszimmer hinauf.
Ihr Mann saß vor dem Computer. Er drehte nur kurz den Kopf, als sie
eintrat und bearbeitete dann weiter die Tastatur.
Wie wäre es mit einem Antwerpener Versöhnungsschluck, sagte sie und
schaute ihm über die Schulter. Woran arbeitest du?
Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch und las den Textausschnitt
auf dem Monitor.
Sag mal - das sind ja wir, die du da beschreibst! Jedenfalls beinahe.
Was soll denn das werden?
Ihr Mann drehte seinen Drehstuhl zu ihr herum und zog sie auf seine
Knie.
Ich habe dir doch vor ein paar Wochen von diesem
Online-Schreibexperiment erzählt, sagte er. Erinnerst du dich? Das
Projekt, an dem ich mit einigen Schülern und mit dieser Autorin
arbeite. Das hier ist mein Personenprofil. Sie wird mich unter meinem
nick und vielleicht auch als reale Person in die Handlung einarbeiten.
Ist doch ein interessanter Versuch, findest du nicht?
Ich weiß nicht, sagte seine Frau, diese Vermischung von Wirklichkeit
und Fiktion, von Beruf und Privatleben - ich bin nicht sicher, ob das
gut ist. Und außerdem: Hast du nicht schon genug Arbeit? Musst du dir
so etwas auch noch aufhalsen lassen? Bis in die halbe Nacht arbeitest du
an dem Zeug. Diese Büchertante macht es sich sehr einfach. Ihr liefert
ihr den Stoff, die Personenprofile und den Internet-Auftritt - ich weiß
wirklich nicht, ob mir das gefällt.
Ach komm schon, Regine, sollte das nicht ein Antwerpener Versöhnungsschluck
werden? Er reichte ihr die Mokkatasse und stieß lächelnd mit ihr an.
Auf das Leben, sagte er.