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Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 2 (1)

 

...
Das neue Jahr sah noch schlimmer aus als das alte. Gegen die beschlagenen Fensterscheiben peitschte der Regen. Jeder Windstoß übergoss das Glas mit neuen Wasserbächen.
Sieht aus wie in der Dusche, dachte Lukas und drehte den Kopf vorsichtig zur Seite, um auf den Wecker zu sehen. Fast zehn! Verdammt, der arme Zausel! Jetzt nur keinen Fehler machen. Langsam aufstehen - ganz langsam. Zuviel Sekt getrunken gestern Abend. Diese Brause ist übel. Aber die Mädchen waren ganz verrückt danach. Paula konnte gar nicht genug davon bekommen. Paula - bloß nicht dran denken! Wo ist denn der andere Schuh? Offenbar unter das Bett gerutscht. Da muss er erst mal bleiben. Bücken ist jetzt keine gute Idee.
Die Fliesen waren eiskalt unter seinen nackten Füßen. Lukas ging auf den Zehenspitzen durch den Flur, die Treppe hinauf, ins Wohnzimmer.
Servus, murmelte er, Opa hätte gesagt, das sieht hier aus wie nach dem Polnischen Krieg. Aber darum kann ich mich frühestens heute Abend kümmern.
Er öffnete die Tür zu dem kleinen Abstellraum neben der Garderobe.
Zausel, rief er, Zausel, alter Freund! Wo bist du denn? Na komm schon heraus, du schwarzes Ungeheuer! Oder bist du beleidigt, weil ich dich ausquartiert habe?
Zausel hob die Schnauze und schielte Lukas aus trüben Augen an. Das Futter hatte er nicht angerührt. Nur der Wassernapf war leer. Lukas ging in die Küche und füllte ihn auf.
Du stinkst, alter Freund, sagte er, beugte sich vorsichtig zu dem Hund hinunter und kraulte ihn hinter den Schlappohren. Aber das ist ja nicht deine Schuld. Bist eben alt und krank. Komm! Raus mit dir in den Garten. Danach kannst du wieder zurück auf deinen alten Platz in meinem Zimmer. Gestern warst du da fehl am Platz, mein Junge. Das musst du verstehen. So wie du riechst. Das hätte mir jede Chance versaut. Na ja, ist auch so nichts draus geworden.

Zausel trottete in den Garten. Sein Bauch war grotesk aufgeschwollen. Lukas riss die beiden Flügel der Terrassentür weit auf. Der alte Hund stank wirklich wie ein Misthaufen. Da hatte sein Vater schon Recht.
Warum lässt du ihn nicht endlich einschläfern, hatte er gefragt. Am besten noch vor Silvester. Dann kannst du mit uns nach Österreich fahren und dein neues Snowboard ausprobieren.
Aber Lukas hatte die Unterlippe vorgeschoben und den Kopf geschüttelt. Für die erste Märzwoche plante die Klasse eine Skifahrt nach Oberstdorf. Da war es noch früh genug fürs boarden. Und für die Frage, wer sich in diesen beiden Wochen um Zausel kümmern sollte.
Ich rühre diesen Köter nicht mehr an, hatte seine Mutter gesagt, und im Wohnzimmer will ich ihn auch nicht mehr sehen.

Zausel war ein Mischling. Und er war abgrundtief hässlich. Das war er immer schon gewesen. Es gibt Mischungen, die das beste aller beteiligten Rassen in sich vereinen. Bei Zausel war es umgekehrt. Aber Lukas liebte ihn vom ersten Augenblick an. Vor beinahe zwölf Jahren hatte sein Großvater den zerzausten Welpen bei seinem täglichen Spaziergang am Flussufer gefunden. Der Kleine war halb tot. Wahrscheinlich hatte jemand versucht, ihn zu ersäufen. Der erste Blick aus den blanken, grotesk schielenden Hundeaugen hatte Lukas das Herz gebrochen.
Ich will ihn behalten, hatte er gesagt. Unbedingt. Ich werde ihn Zausel nennen.
Und seitdem war dieser Hund der einzige, aber unübersehbare Schandfleck in einer perfekt gestylten Wohnumgebung.

Nach dem Duschen und einer ganzen Flasche Mineralwasser fühlte Lukas sich schon etwas besser. Aus den Gästezimmern kam kein Laut. Offenbar schliefen sie alle noch. Er hatte einen faden Geschmack im Mund. Ob er etwas essen sollte? Der eingetrocknete Kartoffelsalat, die aufgeplatzten Würstchen in der trüben Brühe, die verbogenen Käsebrötchen - o nein, besser noch nichts essen.
Das Handy klingelte. Wo hatte er das bloß liegen lassen? Er folgte dem Ton. Als er es endlich zwischen den zerknüllten Seidenkissen auf der Couch fand, war die Leitung tot. Machte nichts. Er hatte sowieso keine Lust auf Gespräche. Wahrscheinlich war es Paula.
Darüber reden wir noch, hatte sie gefaucht, bevor sie die Haustür hinter sich zuknallte und durch den Regen auf das wartende Taxi zulief.

Was gab es da zu reden? Lukas hatte selbst keine Ahnung, was in ihn gefahren war. Natürlich wusste er, dass Paula in ihn verliebt war. Verliebt? Na ja, jedenfalls das, was sie dafür hielt. Ob er sich deshalb so gelangweilt fühlte? Sie war so berechenbar. Lukas hatte vor einiger Zeit damit begonnen, in Gedanken Paulas Verhalten, ihre Meinungen und Reaktionen im Unterricht und bei den Treffen der Clique vorherzusagen. Das Spiel wurde rasch langweilig, die Trefferquote war einfach zu hoch. Aber gestern hatte sie ihn doch überrascht.

Die Fete lief wie alle anderen auch. Nicht besser und nicht schlechter. Das war schon nach zwei Stunden klar. Die meisten hingen bloß noch rum. Laura tippte in ihr Handy. Tom hockte vor der Stereoanlage, trank, rauchte Kette und legte Musik auf: Limp Bizkit, Linkin Park, Staind und Papa Roach. Tanja und ein paar andere glotzten in der Fernsehecke MTV. Wolli kippte Aschenbecher aus, strich sich die verfilzten Haare hinter die Ohren, machte Brühwürste heiß, versorgte Anna mit Gulaschsuppe, wischte die Pfütze unter dem Bierfass auf und lauschte geduldig Paulas endlosen Film-Nacherzählungen.
Es war alles so, wie es immer war. Aber Lukas fühlte sich irritiert und unruhig, auf irgendeine Weise gestört. Den ganzen Abend schon. Und auf einmal wusste er auch, was ihn störte. Anna störte. Sie saß mit geradem Rücken auf einem der hochlehnigen spanischen Stühle an der Stirnwand des Raums. Von dort konnte sie die ganze Halle übersehen, und Lukas war sich dieser Tatsache in jeder Minute bewusst. Sie hatte die Füße unter dem langen, mit Perlen und kleinen Spiegeln bestickten Baumwollrock gekreuzt und die langen Haare zu einem straffen Knoten zusammengefasst. Er sah sie zum ersten Mal mit make-up. Der Mund mit der großzügig geschwungenen Unterlippe leuchtete wie ein Blütenblatt in ihrem blassen, strengen Gesicht. Im Lärm und Durcheinander des Raums saß Anna wie auf einer eigenen Insel. Sie machte ihn nervös.
Lukas wechselte von einer Gruppe zur anderen, behielt sie immer im Blick und schlenderte schließlich wie zufällig zu ihr hinüber.
Wie findest du die Musik?
Anna hob die Schultern und deutete mit den Zeigefingern auf ihre Ohren.
Ob dir die Musik gefällt, brüllte Lukas.
Anna schüttelte den Kopf.
Und was hörst du so?
Lach nicht, sagte sie, ich mag Leonhard Cohen und Klezmer-Musik, Arvo Pärt und Queen.
Queen mag ich auch, ich habe alles von ihnen.
Da hätten wir ja doch was gemeinsam, sagte Anna und sah ihm lächelnd in die Augen.
Wolli kam und räumte die leeren Gläser ab.

Später, nach viel Bier und noch mehr Sekt, als Paula sich auf der Treppe zum Untergeschoss an Lukas drängte, ihn küsste, ihn ihre Zunge, ihre Brust und ihre Hüften spüren ließ, auch da war er sich noch Annas Blicks bewusst. Und trotz dieses Blicks zog er Paula in sein Schlafzimmer. Oder gerade deshalb?
...

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