...
Lukas hatte keine Lust, länger darüber nachzudenken. Er begann mit den
unvermeidlichen Aufräumarbeiten. Würste und Brötchen warf er in den Mülleimer,
den Rest des Kartoffelsalats kippte er in die Toilette und spülte
zweimal kräftig nach. Wonach stank es denn hier? Er schluckte
krampfhaft, als er die Ursache entdeckte. Das fehlte gerade noch. Das
Waschbecken war bis zur Hälfte mit Erbrochenem gefüllt. Die flüssigen
Anteile waren abgelaufen. Der schmierige Randstreifen im oberen Drittel
zeigte die ursprüngliche Füllhöhe. Das hieß im Klartext: Der Rest
musste irgendwie ausgeschöpft werden.
Aber nicht von mir, dachte Lukas und schluckte noch einmal, und vor
allem nicht jetzt.
Wolli kam in den Wohnraum herunter, schmal
und blass wie immer und noch zerzauster als sonst, falls das möglich
war.
Ausgeschlafen?
Geht schon, sagte Wolli. Hab’ noch bis um vier
Schach gespielt. Dann ist mein Partner eingeschlafen, und mein Akku war
leer. Kann ich irgendwo duschen?
Unten, sagte Lukas, hier oben hat jemand ins Becken
gekotzt.
Lass mal. Ich mach das schon. Wolli schlurfte in Richtung Bad. Ist
wahrscheinlich von Tom. Der war gestern hackevoll.
Nicht bloß gestern, sagte Lukas.
Wie auf sein Stichwort erschien jetzt auch Tom auf der Galerie.
Lukas sah ihn zum ersten Mal ohne Baggy-Hosen,
Shirt und Baseball-Kappe. Er trug nichts als einen knappen schwarzen
Slip und eine Zigarette in der linken Hand. Der Junge sah wirklich gut
aus.
Gehst wohl in die Muckibude? fragte Lukas und studierte verstohlen Toms
perfekten Sixpack-Bauch.
Ne. Ich mache kickboxen. Das bringt mehr. Kannst ja mal mitkommen.
Mal sehen, sagte Lukas.
Kickboxen in dieser Kaschemme in der Ehrenstraße. Da würde er auf
keinen Fall hingehen. Da hingen doch bloß Russen, Jugos und Türken
herum. Angeblich konnte man da alles kaufen oder verkaufen: Illegal
gebrannte CD’s, geschmuggelte Zigaretten, Computerteile dubioser
Herkunft, Dope, Mädchen und geklaute Markenklamotten.
Die Dusche ist unten, sagte Lukas. He, warte mal! Was ist das für ein
cooles Tattoo?
Auf Toms eindrucksvollem rechten Bizeps waren ein schwarzes blutüberströmtes
Schwert und darunter einige asiatische Schriftzeichen eintätowiert.
He, grinste Lukas, gehörst du zur chinesischen Maffia.
Ist ein Andenken an meinen Bruder. Tom drückte seine Zigarettenkippe in
einen Blumentopf. Er war erst zwei, als das Unglück passierte.
Tut mir leid, murmelte Lukas.
Schon gut, sagte Tom. Hat außer Wolli und mir noch einer hier übernachtet?
Lukas schüttelte den Kopf.
Ich habe einen kleinen black-out. Tom massierte sich mit den Spitzen von
Zeige- und Mittelfingern die Schläfen. Ich weiß nur noch, dass Anna
gegen halb zwölf wortlos verschwunden ist und kurz danach Paula -
ebenfalls wortlos. Hattet ihr beide Zoff?
Erinnere mich nicht daran, sagte Lukas.
Tom verschwand im Badezimmer. Lukas stapelte Teller und Gläser auf ein
Tablett, trug sie in die Küche und sortierte sie in die Spülmaschine
ein. Im Wohnzimmer klingelte das Handy. Lukas füllte Spülpulver in die
Maschine und drehte den Schalter auf Start.
Ob er Kaffee aufbrühen sollte? Wolli würde auf jeden Fall welchen mögen.
Der trank Kaffee in jeder Form und zu jeder Zeit. Was Tom mochte, wusste
er nicht. Dazu kannte er ihn nicht gut genug. Seine Familie war erst in
diesem Herbst in die Stadt gezogen. Obwohl Tom die Klasse wiederholte, zählte
er zum letzten Drittel. Es schien ihm nichts auszumachen. Die Art, wie
er seine Klausuren in den Rucksack stopfte, ohne sie eines Blicks zu würdigen,
hatte schon Stil. Er war verschlossen, fast feindselig. Wirkliche
Freunde hatte er offenbar nicht. Aber er konnte alles besorgen und das
so billig, dass ihm niemand Fragen stellte.
Während der Kaffee-Automat zu gluckern begann,
starrte Lukas aus dem Küchenfenster. Der Regen ging allmählich in
Schnee über. Die schweren Flocken lösten sich in Nässe auf, sobald
sie den Asphalt berührten. Nur das kleine Wiesenstück neben der
Garageneinfahrt und die Taxushecke überzogen sich mit fleckigem Weiß.
Lukas begriff sich selbst nicht. Im Grunde hatte er doch genau das
gewollt: Die Fete, die sturmfreie Bude - und Paula. Alles war perfekt.
Aber als sie die Schlafzimmertür hinter ihnen zuzog, wusste er plötzlich,
dass alles falsch war: Die falsche Zeit, der falsche Ort - und die
falsche Frau.
Lass das, hatte er gesagt, als sie begann, sein Hemd aufzuknöpfen, und
sie sanft von sich geschoben. Aber Paula begriff nicht. Noch nicht. Sie
drängte sich noch enger an ihn. Sie schob sein Hemd hoch und öffnete
seine Gürtelschnalle.
Und da war es passiert. Wie ein Reflex. Lukas stieß sie so heftig von
sich, dass sie mit dem Kopf gegen die Ecke des Kleiderschranks prallte.
Paula starrte ihn mit offenem Mund an und betastete vorsichtig ihren
Hinterkopf. Die Finger ihrer rechten Hand waren blutig.
Entschuldige, Paula, hatte er gestammelt. Das wollte ich nicht... ich
kann das nicht... du benimmst dich wie eine Nutte...
Nein!, hatte sie geantwortet. Daran liegt es nicht! Mach dir nichts vor.
Das hätte dir sogar gefallen. Es liegt an ihr, an dieser Statue mit dem
Madonnengesicht und den Zigeunerklamotten. Weißt du das wenigstens?
Lukas hatte ein Taxi bestellt und sich dann auf
die Bettkante gehockt, hatte stumm gewartet, bis er den Wagen vorfahren
hörte, hatte Paula wortlos bis zur Tür gebracht.
Aber über all das würde noch zu reden sein. Soviel war sicher.
...