Den vorherigen Textabschnitt nochmals nachlesen?

 

Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 2 (2)

 

...
Lukas hatte keine Lust, länger darüber nachzudenken. Er begann mit den unvermeidlichen Aufräumarbeiten. Würste und Brötchen warf er in den Mülleimer, den Rest des Kartoffelsalats kippte er in die Toilette und spülte zweimal kräftig nach. Wonach stank es denn hier? Er schluckte krampfhaft, als er die Ursache entdeckte. Das fehlte gerade noch. Das Waschbecken war bis zur Hälfte mit Erbrochenem gefüllt. Die flüssigen Anteile waren abgelaufen. Der schmierige Randstreifen im oberen Drittel zeigte die ursprüngliche Füllhöhe. Das hieß im Klartext: Der Rest musste irgendwie ausgeschöpft werden.
Aber nicht von mir, dachte Lukas und schluckte noch einmal, und vor allem nicht jetzt.

Wolli kam in den Wohnraum herunter, schmal und blass wie immer und noch zerzauster als sonst, falls das möglich war.
Ausgeschlafen?

Geht schon, sagte Wolli. Hab’ noch bis um vier Schach gespielt. Dann ist mein Partner eingeschlafen, und mein Akku war leer. Kann ich irgendwo duschen?

Unten, sagte Lukas, hier oben hat jemand ins Becken gekotzt.
Lass mal. Ich mach das schon. Wolli schlurfte in Richtung Bad. Ist wahrscheinlich von Tom. Der war gestern hackevoll.
Nicht bloß gestern, sagte Lukas.
Wie auf sein Stichwort erschien jetzt auch Tom auf der Galerie.

Lukas sah ihn zum ersten Mal ohne Baggy-Hosen, Shirt und Baseball-Kappe. Er trug nichts als einen knappen schwarzen Slip und eine Zigarette in der linken Hand. Der Junge sah wirklich gut aus.
Gehst wohl in die Muckibude? fragte Lukas und studierte verstohlen Toms perfekten Sixpack-Bauch.
Ne. Ich mache kickboxen. Das bringt mehr. Kannst ja mal mitkommen.
Mal sehen, sagte Lukas.
Kickboxen in dieser Kaschemme in der Ehrenstraße. Da würde er auf keinen Fall hingehen. Da hingen doch bloß Russen, Jugos und Türken herum. Angeblich konnte man da alles kaufen oder verkaufen: Illegal gebrannte CD’s, geschmuggelte Zigaretten, Computerteile dubioser Herkunft, Dope, Mädchen und geklaute Markenklamotten.
Die Dusche ist unten, sagte Lukas. He, warte mal! Was ist das für ein cooles Tattoo?
Auf Toms eindrucksvollem rechten Bizeps waren ein schwarzes blutüberströmtes Schwert und darunter einige asiatische Schriftzeichen eintätowiert.
He, grinste Lukas, gehörst du zur chinesischen Maffia.
Ist ein Andenken an meinen Bruder. Tom drückte seine Zigarettenkippe in einen Blumentopf. Er war erst zwei, als das Unglück passierte.
Tut mir leid, murmelte Lukas.
Schon gut, sagte Tom. Hat außer Wolli und mir noch einer hier übernachtet?

Lukas schüttelte den Kopf.
Ich habe einen kleinen black-out. Tom massierte sich mit den Spitzen von Zeige- und Mittelfingern die Schläfen. Ich weiß nur noch, dass Anna gegen halb zwölf wortlos verschwunden ist und kurz danach Paula - ebenfalls wortlos. Hattet ihr beide Zoff?
Erinnere mich nicht daran, sagte Lukas.
Tom verschwand im Badezimmer. Lukas stapelte Teller und Gläser auf ein Tablett, trug sie in die Küche und sortierte sie in die Spülmaschine ein. Im Wohnzimmer klingelte das Handy. Lukas füllte Spülpulver in die Maschine und drehte den Schalter auf Start.
Ob er Kaffee aufbrühen sollte? Wolli würde auf jeden Fall welchen mögen. Der trank Kaffee in jeder Form und zu jeder Zeit. Was Tom mochte, wusste er nicht. Dazu kannte er ihn nicht gut genug. Seine Familie war erst in diesem Herbst in die Stadt gezogen. Obwohl Tom die Klasse wiederholte, zählte er zum letzten Drittel. Es schien ihm nichts auszumachen. Die Art, wie er seine Klausuren in den Rucksack stopfte, ohne sie eines Blicks zu würdigen, hatte schon Stil. Er war verschlossen, fast feindselig. Wirkliche Freunde hatte er offenbar nicht. Aber er konnte alles besorgen und das so billig, dass ihm niemand Fragen stellte.

Während der Kaffee-Automat zu gluckern begann, starrte Lukas aus dem Küchenfenster. Der Regen ging allmählich in Schnee über. Die schweren Flocken lösten sich in Nässe auf, sobald sie den Asphalt berührten. Nur das kleine Wiesenstück neben der Garageneinfahrt und die Taxushecke überzogen sich mit fleckigem Weiß.
Lukas begriff sich selbst nicht. Im Grunde hatte er doch genau das gewollt: Die Fete, die sturmfreie Bude - und Paula. Alles war perfekt. Aber als sie die Schlafzimmertür hinter ihnen zuzog, wusste er plötzlich, dass alles falsch war: Die falsche Zeit, der falsche Ort - und die falsche Frau.
Lass das, hatte er gesagt, als sie begann, sein Hemd aufzuknöpfen, und sie sanft von sich geschoben. Aber Paula begriff nicht. Noch nicht. Sie drängte sich noch enger an ihn. Sie schob sein Hemd hoch und öffnete seine Gürtelschnalle.
Und da war es passiert. Wie ein Reflex. Lukas stieß sie so heftig von sich, dass sie mit dem Kopf gegen die Ecke des Kleiderschranks prallte.
Paula starrte ihn mit offenem Mund an und betastete vorsichtig ihren Hinterkopf. Die Finger ihrer rechten Hand waren blutig.
Entschuldige, Paula, hatte er gestammelt. Das wollte ich nicht... ich kann das nicht... du benimmst dich wie eine Nutte...
Nein!, hatte sie geantwortet. Daran liegt es nicht! Mach dir nichts vor. Das hätte dir sogar gefallen. Es liegt an ihr, an dieser Statue mit dem Madonnengesicht und den Zigeunerklamotten. Weißt du das wenigstens?

Lukas hatte ein Taxi bestellt und sich dann auf die Bettkante gehockt, hatte stumm gewartet, bis er den Wagen vorfahren hörte, hatte Paula wortlos bis zur Tür gebracht.
Aber über all das würde noch zu reden sein. Soviel war sicher.
...

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