...
Es kam näher. Sie spürte es bis in die
Fingerspitzen.
Annemarie Frederes befand sich in dem kurzen, kaum wahrnehmbaren
Korridor vor dem tosenden Raum. Jetzt konnte sie noch handeln. Nicht
mehr lange, daran erinnerte sie sich vom letzten Mal. Sie tastete im
Halbdunkel auf ihrem Nachttisch nach der Pillendose: Die Lesebrille, das
Päckchen Papiertaschentücher, ihre Ohrclipse - dann der kleine ovale
Messingbehälter mit dem Porzellandeckel, ein frühes
Geburtstagsgeschenk von Anna. Der Deckel sprang auf. Es waren noch vier
der länglichen gelben Kapseln darin. Sie ließ eine davon in ihre hohle
Hand rollen. Die Tabletten würden reichen für diesen beginnenden Tag
und für die nächste Nacht. Dann musste Dr. Roß ihr neue verschreiben.
Neue verschreiben....viele neue ... Und wenn sie die geschluckt hatte, würden
die Tage kommen, an denen sie sich nicht mehr spürte. Tage, an denen
eine Gliederpuppe durch ihre Wohnung stakte und ihr eine fremde Maske
aus dem Badezimmerspiegel entgegenstarrte. Formlose Tage ohne Schmerz
und ohne Freude, ohne Arbeit und ohne Muße.
Annemarie Frederes legte die Kapsel in die Dose zurück.
Der Korridor war zu Ende. War da überhaupt einer gewesen?
Der Wecker zeigte auf halb vier. Sie konnte nicht
schlafen. Sie war erst vor einer knappen Stunde nach Hause gekommen.
Allein. Lange vor Mitternacht hatte sie sich von Bruno getrennt. Sie
hatte es nicht mehr ausgehalten an dem winzigen Zweiertisch gleich neben
der Showbühne, zum Stillsitzen gezwungen, eingeklemmt, unbeweglich.
Lass uns hier weggehen, hatte sie gesagt.
Er war gekränkt.
Weißt du, wie viel Geld ich für diesen Tisch bezahlt habe? Weißt du,
wie lange ich dafür arbeiten muss? Du wolltest doch unbedingt hier her,
du wolltest dieses Kabarett-Programm ansehen.
Der Raum zwischen Tisch und Podium war so eng, dass sie ihre Beine nicht
ausstrecken konnte. Brunos Schulter berührte die ihre. Sein After-shave
nahm ihr fast den Atem. Der junge Mann am Tisch hinter ihnen lachte dröhnend
bei jeder Pointe und stieß mit seinen Füßen gegen ihren Stuhl.
Sie griff nach ihrer Abendtasche und stieß dabei Brunos Glas um. Sie
zitterte vor Ungeduld.
Kommst du mit?
Bruno betupfte den Weinfleck auf seiner Hose mit einer Serviette. Er schüttelte
den Kopf.
Sie hatte den Saal verlassen, als stünde er in Flammen.
Die Garderobenfrau hielt sich die Blechmarke dicht vor die Augen,
wickelte eine rosafarbene Häkelarbeit in ein blau-weiß kariertes Küchentuch,
stand seufzend auf und begann, die überquellenden Ständer zu
durchsuchen. Annemarie Frederes trommelte mit den Fingernägeln auf die
Theke und bezwang den Impuls, ohne ihren Mantel auf die Straße zu
laufen.
Endlich! Sie riss der Frau den Mantel aus der Hand.
Was für eine Befreiung, endlich laufen zu können, allein und ohne auf
einen fremden Rhythmus zu achten. Laufen, rennen, die Unruhe umsetzen in
schnelle Schritte, in Sprünge über Pfützen. Erst jetzt merkte sie,
dass sie ihren Schirm vergessen hatte. Was machte das schon? Sie würde
sich einen neuen kaufen. Einen roten vielleicht oder einen mit großen
Blumen, nicht so ein anthrazitfarbenes Herrenmodell wie den vorigen.
Einen neuen Mantel brauchte sie auch und neue Schuhe, eigentlich eine völlig
neue Garderobe.
Junge Frauen können anziehen, was sie wollen; sie
sind immer schön. In vier Monaten wurde sie 39. Dann trennte sie nur
noch ein einziges Jahr von der magischen Grenze. Sie musste endlich mehr
aus sich machen. Der Umzug war der richtige Anlass dazu. Sie war jetzt
fest entschlossen, die Wohnung zu mieten. Eine todschicke Wohnung in
einer Top-Anlage mit Anwaltskanzleien, Boutiquen, hauseigener Sauna und
Schwimmhalle. Ein Loft, wie der Makler sagte, eine ehemalige
Fabrikationshalle, nur durch mobile Wände, verschiebbare Falttüren und
Einbauschränke unterteilt. Großzügig, hell, fast vier Meter hoch. Weißer
Rauhputz an den Wänden, eine Balkendecke und ein zementgrauer Estrich.
Unsere Mieter legen Wert darauf, den Bodenbelag nach eigenem Geschmack
auszuwählen, hatte der Makler gesagt.
Parkett, antwortete sie, Schiffsbodenparkett, dunkle Eiche.
Sie haben einen ganz einfachen Geschmack, gnädige Frau, einfach nur das
Beste, sagte der Makler und entblößte erstklassig gemachte Zähne.
Er tippte Zahlen in seinen Taschenrechner und nannte eine sehr hohe
Summe. Offenbar legten die Mieter auch Wert darauf, die Kosten für den
Fußboden selbst zu tragen. Na wenn schon. Bestimmt konnte man
Ratenzahlungen vereinbaren. Mit der Vollzeitstelle im Architekturbüro
erledigte sich das Problem von selbst. Diese Wohnung lag nur einen
Steinwurf davon entfernt. Das würde ihr das Fahrgeld ersparen. Sie
hatte die Bewerbung Anfang Dezember losgeschickt. Es war normal, dass
sie noch keine Antwort hatte. Zwischen den Feiertagen arbeitete doch
niemand. Aber im neuen Jahr würde man sie zum Vorstellungsgespräch
einladen. Und wenn sie dem Personalchef erst einmal gegenüber saß, war
alles nur noch eine Formsache...
Annemarie Frederes erinnerte sich nicht mehr, warum
sie noch in dieses Lokal gegangen war. Wahrscheinlich weil der Regen
immer stärker wurde. Sie erinnerte sich an Musik und Gelächter, vor
allem an ihr eigenes. Sie hatte getanzt, zuerst mit einem sehr jungen
Mann, dann mit vielen anderen. Einige davon hatte sie selbst
aufgefordert. Sie hatte viel getrunken und nichts bezahlt. Die Wirtin
schob ihr die Gläser zu, Rotwein, Sekt, Cocktails und deutete auf Männergesichter,
die sie anlächelten und ihr zuprosteten. Die Wirtin war es wohl auch
gewesen, die gegen halb drei das Taxi bestellt hatte. Jedenfalls hatte
sie ihr den Mantel umgelegt, ihr die Abendtasche in die Hand gedrückt
und sie auf den Rücksitz des Wagens geschoben. Der Fahrpreis war hoch für
die kurze Strecke. Fünfzehn Euro. Sie bezahlte mit einem
Zwanzig-Euro-Schein.
Stimmt so, hatte sie gesagt.
In der knappen Stunde seit ihrer Heimkehr war sie
schon zweimal aufgestanden. Einmal, um nach Anna zu sehen. Sie lag auf
der Seite, zur Wand gedreht, zusammengerollt wie eine Kugel, das Laken
über den Kopf gezogen. Als Kind hatte sie auf dem Rücken geschlafen,
mit ausgebreiteten Armen und geöffneten Händen.
Beim zweiten Aufstehen hängte sie den Rock und die Chiffonbluse auf den
Balkon zum Auslüften. Anna hasste den Zigarettenrauch. Schlimm genug,
dass einer ihrer Strümpfe eine Laufmasche hatte. Sie reichte von der
Ferse bis zum elastischen Spitzenrand.
Annemarie Frederes warf die Decke zurück. Sie schlüpfte
in einen alten Jogginganzug und begann, den Kleiderschrank auszuräumen.
Das alles hier musste weg, es passte nicht zu ihr und zu der neuen
Wohnung. Sie stopfte Blusen, Pullis, Röcke und Hosen in große blaue Müllsäcke.
In diesem neuen Jahr würde sich ihr Leben ändern.
...