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Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 3/1

 

...

Es kam näher. Sie spürte es bis in die Fingerspitzen.
Annemarie Frederes befand sich in dem kurzen, kaum wahrnehmbaren Korridor vor dem tosenden Raum. Jetzt konnte sie noch handeln. Nicht mehr lange, daran erinnerte sie sich vom letzten Mal. Sie tastete im Halbdunkel auf ihrem Nachttisch nach der Pillendose: Die Lesebrille, das Päckchen Papiertaschentücher, ihre Ohrclipse - dann der kleine ovale Messingbehälter mit dem Porzellandeckel, ein frühes Geburtstagsgeschenk von Anna. Der Deckel sprang auf. Es waren noch vier der länglichen gelben Kapseln darin. Sie ließ eine davon in ihre hohle Hand rollen. Die Tabletten würden reichen für diesen beginnenden Tag und für die nächste Nacht. Dann musste Dr. Roß ihr neue verschreiben. Neue verschreiben....viele neue ... Und wenn sie die geschluckt hatte, würden die Tage kommen, an denen sie sich nicht mehr spürte. Tage, an denen eine Gliederpuppe durch ihre Wohnung stakte und ihr eine fremde Maske aus dem Badezimmerspiegel entgegenstarrte. Formlose Tage ohne Schmerz und ohne Freude, ohne Arbeit und ohne Muße.

Annemarie Frederes legte die Kapsel in die Dose zurück. Der Korridor war zu Ende. War da überhaupt einer gewesen?

Der Wecker zeigte auf halb vier. Sie konnte nicht schlafen. Sie war erst vor einer knappen Stunde nach Hause gekommen. Allein. Lange vor Mitternacht hatte sie sich von Bruno getrennt. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten an dem winzigen Zweiertisch gleich neben der Showbühne, zum Stillsitzen gezwungen, eingeklemmt, unbeweglich.
Lass uns hier weggehen, hatte sie gesagt.
Er war gekränkt.
Weißt du, wie viel Geld ich für diesen Tisch bezahlt habe? Weißt du, wie lange ich dafür arbeiten muss? Du wolltest doch unbedingt hier her, du wolltest dieses Kabarett-Programm ansehen.
Der Raum zwischen Tisch und Podium war so eng, dass sie ihre Beine nicht ausstrecken konnte. Brunos Schulter berührte die ihre. Sein After-shave nahm ihr fast den Atem. Der junge Mann am Tisch hinter ihnen lachte dröhnend bei jeder Pointe und stieß mit seinen Füßen gegen ihren Stuhl.
Sie griff nach ihrer Abendtasche und stieß dabei Brunos Glas um. Sie zitterte vor Ungeduld.
Kommst du mit?
Bruno betupfte den Weinfleck auf seiner Hose mit einer Serviette. Er schüttelte den Kopf.
Sie hatte den Saal verlassen, als stünde er in Flammen.
Die Garderobenfrau hielt sich die Blechmarke dicht vor die Augen, wickelte eine rosafarbene Häkelarbeit in ein blau-weiß kariertes Küchentuch, stand seufzend auf und begann, die überquellenden Ständer zu durchsuchen. Annemarie Frederes trommelte mit den Fingernägeln auf die Theke und bezwang den Impuls, ohne ihren Mantel auf die Straße zu laufen.
Endlich! Sie riss der Frau den Mantel aus der Hand.
Was für eine Befreiung, endlich laufen zu können, allein und ohne auf einen fremden Rhythmus zu achten. Laufen, rennen, die Unruhe umsetzen in schnelle Schritte, in Sprünge über Pfützen. Erst jetzt merkte sie, dass sie ihren Schirm vergessen hatte. Was machte das schon? Sie würde sich einen neuen kaufen. Einen roten vielleicht oder einen mit großen Blumen, nicht so ein anthrazitfarbenes Herrenmodell wie den vorigen. Einen neuen Mantel brauchte sie auch und neue Schuhe, eigentlich eine völlig neue Garderobe.

Junge Frauen können anziehen, was sie wollen; sie sind immer schön. In vier Monaten wurde sie 39. Dann trennte sie nur noch ein einziges Jahr von der magischen Grenze. Sie musste endlich mehr aus sich machen. Der Umzug war der richtige Anlass dazu. Sie war jetzt fest entschlossen, die Wohnung zu mieten. Eine todschicke Wohnung in einer Top-Anlage mit Anwaltskanzleien, Boutiquen, hauseigener Sauna und Schwimmhalle. Ein Loft, wie der Makler sagte, eine ehemalige Fabrikationshalle, nur durch mobile Wände, verschiebbare Falttüren und Einbauschränke unterteilt. Großzügig, hell, fast vier Meter hoch. Weißer Rauhputz an den Wänden, eine Balkendecke und ein zementgrauer Estrich.
Unsere Mieter legen Wert darauf, den Bodenbelag nach eigenem Geschmack auszuwählen, hatte der Makler gesagt.
Parkett, antwortete sie, Schiffsbodenparkett, dunkle Eiche.
Sie haben einen ganz einfachen Geschmack, gnädige Frau, einfach nur das Beste, sagte der Makler und entblößte erstklassig gemachte Zähne.
Er tippte Zahlen in seinen Taschenrechner und nannte eine sehr hohe Summe. Offenbar legten die Mieter auch Wert darauf, die Kosten für den Fußboden selbst zu tragen. Na wenn schon. Bestimmt konnte man Ratenzahlungen vereinbaren. Mit der Vollzeitstelle im Architekturbüro erledigte sich das Problem von selbst. Diese Wohnung lag nur einen Steinwurf davon entfernt. Das würde ihr das Fahrgeld ersparen. Sie hatte die Bewerbung Anfang Dezember losgeschickt. Es war normal, dass sie noch keine Antwort hatte. Zwischen den Feiertagen arbeitete doch niemand. Aber im neuen Jahr würde man sie zum Vorstellungsgespräch einladen. Und wenn sie dem Personalchef erst einmal gegenüber saß, war alles nur noch eine Formsache...

Annemarie Frederes erinnerte sich nicht mehr, warum sie noch in dieses Lokal gegangen war. Wahrscheinlich weil der Regen immer stärker wurde. Sie erinnerte sich an Musik und Gelächter, vor allem an ihr eigenes. Sie hatte getanzt, zuerst mit einem sehr jungen Mann, dann mit vielen anderen. Einige davon hatte sie selbst aufgefordert. Sie hatte viel getrunken und nichts bezahlt. Die Wirtin schob ihr die Gläser zu, Rotwein, Sekt, Cocktails und deutete auf Männergesichter, die sie anlächelten und ihr zuprosteten. Die Wirtin war es wohl auch gewesen, die gegen halb drei das Taxi bestellt hatte. Jedenfalls hatte sie ihr den Mantel umgelegt, ihr die Abendtasche in die Hand gedrückt und sie auf den Rücksitz des Wagens geschoben. Der Fahrpreis war hoch für die kurze Strecke. Fünfzehn Euro. Sie bezahlte mit einem Zwanzig-Euro-Schein.

Stimmt so, hatte sie gesagt.

In der knappen Stunde seit ihrer Heimkehr war sie schon zweimal aufgestanden. Einmal, um nach Anna zu sehen. Sie lag auf der Seite, zur Wand gedreht, zusammengerollt wie eine Kugel, das Laken über den Kopf gezogen. Als Kind hatte sie auf dem Rücken geschlafen, mit ausgebreiteten Armen und geöffneten Händen.
Beim zweiten Aufstehen hängte sie den Rock und die Chiffonbluse auf den Balkon zum Auslüften. Anna hasste den Zigarettenrauch. Schlimm genug, dass einer ihrer Strümpfe eine Laufmasche hatte. Sie reichte von der Ferse bis zum elastischen Spitzenrand.

Annemarie Frederes warf die Decke zurück. Sie schlüpfte in einen alten Jogginganzug und begann, den Kleiderschrank auszuräumen. Das alles hier musste weg, es passte nicht zu ihr und zu der neuen Wohnung. Sie stopfte Blusen, Pullis, Röcke und Hosen in große blaue Müllsäcke.
In diesem neuen Jahr würde sich ihr Leben ändern.
...

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