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Und hier ist die Fortsetzung:

Kapitel 3/2

 

Anna schlurfte in die Küche. Sie war noch im Schlafanzug. Die Unruhe in der Wohnung und der Lärm aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter hatten sie aufgeweckt. Sie gähnte, streckte sich wie eine Katze und goss sich Tee in eine der angeschlagenen Schalen aus weißblauem Chinaporzellan.
Ein gutes neues Jahr, Putzi, sagte ihre Mutter und küsste sie flüchtig auf die Wange. Erzähl mal, wie war denn die Fete bei Lukas?
Anna hob die Schultern.
Wie soll es schon gewesen sein?, sagte sie. Das übliche. Und wie geht es Oma?
Annemarie Frederes streifte nervös die Ärmel ihres Jogginganzugs hoch.
Keine Ahnung, ich war mit Bruno weg. Er hatte zwei Karten für das „Senftöpfchen“ besorgt.
Bruno? Wer ist denn Bruno? Sollte ich den kennen?
Ihre Mutter zog die Ärmel wieder herunter.
Nein, nicht nötig, sagte sie. Die Sache ist wahrscheinlich sowieso zu Ende.
Schlimm für dich?, fragte Anna.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf.
Hilfst du mir mal, die Müllsäcke in den Keller zu bringen?
Welche Müllsäcke?
Die aus meinem Schlafzimmer. Ich habe den Schrank ausgemistet. Das Zeug taugt nur noch für die Altkleidersammlung.
Sie flocht eine dichte Reihe von Knoten in die Kordelenden ihrer Jogginghose.
Ich brauche unbedingt was Neues, und du auch, Anna. Dieser Hippiekram, den du trägst, hat mir noch nie gefallen. Wir ziehen übrigens um! Habe ich dir das eigentlich schon erzählt?
Sie löste die Knoten auf und band eine doppelte Schleife.
Die neue Wohnung ist einfach traumhaft. Sie wird dir gefallen. Fahrstuhl, Schwimmbad, Sauna - alles im Haus. Und im Parterre gibt es ein paar richtig gute Designerboutiquen. Vielleicht sollten wir uns da mal nach Klamotten umsehen.
Anna stellte die Teeschale ab und blies sich auf die Fingerspitzen. Sie merkte erst jetzt, dass sie sich verbrannt hatte.
Ja warum eigentlich nicht?, sagte sie. Nehmen wir doch ein Kostümchen von Prada oder einen Hosenanzug von Gucci, passend zur Louis Vuitton-Tasche und den Armani-Schuhen. Sag mal, spinnst du Annemarie? Weißt du, wie viel wir auf dem Konto haben? Weniger als Nichts. Wir sind so im Minus, dass der Automat die Karte eingezogen hat. Das kannst du doch nicht vergessen haben! Die Post hat schon das zweite Mal gemahnt, weil wir die Telefonrechnung nicht bezahlen können. Ich hatte gehofft, dass du gestern Abend mit Oma...
Ach was, sagte ihre Mutter und zerrte zwei der blauen Säcke aus dem Schlafzimmer in die Diele. Oma anpumpen - das haben wir doch nicht nötig. Du hast keinen Mumm in den Knochen, Kind. In dem Architekturbüro verdiene ich doppelt so viel wie bisher. Endlich mal richtiges Geld, nicht nur so ein paar lausige Euro wie bei dieser Datentipperei. Damit ist jetzt Schluss. Die haben mich von Anfang an nur ausgenutzt.
Stopp! sagte Anna und verstellte ihr den Weg zur Wohnungstür. Beantworte mir ein paar einfache Fragen.
Ihre Mutter stellte die Plastiksäcke ab und hockte sich auf einen davon.
Hast du eine Zusage von diesem Büro?, fragte Anna.
Nein, aber....
Hast du einen Mitvertrag unterschrieben?
Nein, ich wollte morgen...
Hast du deinen Job gekündigt?
Nein, das...
Hast du noch welche von den gelben Kapseln?
Ja, vier Stück, aber ich ....
Na Gott sei Dank, seufzte Anna und ließ sich auf den anderen Müllsack plumpsen, dann ist ja noch nichts verloren. Wo sind die Pillen? Du musst sofort eine davon nehmen.
Aber wieso denn? Ihre Mutter fing an, in der langen, schmalen Diele auf und ab zu laufen. Es geht mir doch gut, endlich mal geht es mir richtig gut. Du wirst sehen, Anna, jetzt geht es aufwärts. Ich könnte Bäume ausreißen. Dein Vater wird sich noch wundern. Ich werde es ihm zeigen, diesem Versager, diesem elenden Geizhals. Ich schaffe es ohne ihn. Wir beide schaffen es ohne ihn.
Sie hatte ein Papiertaschentuch aus dem Ärmel gezogen und begann es in kleine Schnipsel zu zerreißen.
Anna hatte inzwischen ein Glas Wasser aus der Küche und die Pillendose aus dem Schlafzimmer geholt.
Komm, nimm schon, Annemarie, sagte sie und hielt ihr die Kapsel auf der offenen Handfläche entgegen. Wir wissen doch, was passiert, wenn du zu lange wartest.
Lass mich mit diesem Zeug in Ruhe!, schrie ihre Mutter und schlug unter die ausgestreckte Hand. Die Kapsel rollte über den Boden und blieb vor dem Schirmständer liegen.
Anna ging in ihr Zimmer. Als sie zurück kam, trug sie Jeans, Turnschuhe, einen handgestrickten Pullover und ihre Sporttasche über der Schulter. Sie nahm ihre Jacke und das bunte indische Baumwolltuch vom Haken und suchte im Schubfach nach den Handschuhen.

Geh nicht weg, murmelte ihre Mutter. Ich kann dieses Lithium-Zeug nicht nehmen. Es knipst mir das Licht aus, Anna. Verstehst du das denn nicht?
Und ich kann das alles nicht mehr aushalten. Nicht schon wieder. Ich will nicht mehr umziehen. Ich will nicht schon wieder vergeblich nach Freunden suchen. Ich will nicht sehen, wie sie dich auf dem Bett festschnallen und dich mit Spritzen voll pumpen. Du hast die Wahl: Entweder du nimmst jetzt eine Tablette oder ich gehe. Ich gehe zu Oma oder zu meinem Vater oder zum Jugendamt. Ganz egal wohin, nur weg hier.
Als sie nach dem Schlüsselbund auf der Ablage griff, bückte sich ihre Mutter nach der Kapsel. Sie wischte sie flüchtig an ihrem Jackenärmel ab und schob sie in den Mund.
Tut mir leid, Mama, seufzte Anna und hielt ihr das Wasserglas entgegen.
Ihre Mutter nahm einen Schluck. Dann zog sie die Schlafzimmertür hinter sich ins Schloss, und Anna hörte, wie sich der Schlüssel drehte.

 

Kapitel 4

 

 

Weihnachtsferien - wer denkt sich so etwas aus?
Ich hatte meine Tour mit dem „Wochenspiegel“ gerade hinter mich gebracht. Der einzige Vorteil dieser toten Zeit ist es, dass ich nicht so viele Werbebeilagen in die Zeitungen einsortieren muss wie vor dem Fest. Da waren es manchmal so viele, dass sie mehr wogen als das ganze Anzeigenblatt. Mein Bezirk ist unbeliebt unter den Zeitungsboten. Deshalb machte es auch keine Mühe, ihn zu bekommen. Er liegt am Hang des Uhlenberg, dem einzigen grünen, unverschandelten Bezirk unserer Stadt. Dort gibt es keine Hochhäuser und überhaupt nur wenige Mietwohnungen. Den größten Teil der Haushalte machen freistehende Einfamilien- oder Doppelhäuser aus. Eine Pest! Viele von ihnen haben lange Vorgärten, oft mit Treppen oder Auffahrtsrampen für die Autos. So wie bei den Plettenbergs. Dort hatte ich auch gerade eine Zeitung in den Briefkasten gesteckt. Lukas - besser nicht dran denken.
Dann denke ich lieber an die Frau aus der Katzfeystraße 3, die immer schon auf mich und dieses kostenlos verteilte Anzeigenblatt wartet. Sie wird in diesem Jahr 85, hat sie mir erzählt, und sie liest als erstes immer die Todesanzeigen. Heute hat sie mir einen Schein in die Hand gedrückt und mir ein gutes neues Jahr gewünscht. Zehn Euro - möge sie noch lange fremde Todesanzeigen lesen können!
Wenn ich den Werbefuzzis aus dem Fernsehen traue, sollte ich um diese weihnachtliche Nachmittagszeit mit der Familie bei Pfeffernüssen, Stollen und Jacobs-Kaffee am Wohnzimmertisch sitzen bei stimmungsvoller Musik und mit brennenden Kerzen an der zimmerhohen Edeltanne. Ob es so etwas wirklich gibt? Als ich nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Küchentisch: „Bin gegen 8 Uhr zurück. Annemarie“
Ich setzte mich an den Computer und loggte mich in den chat ein. Was hätte ich sonst tun sollen? Lesen? Musik hören? Ich fühlte mich so schrecklich müde. Aber Schlaf am Tag war gefährlich. Das wusste ich. Das war eines der Alarmzeichen, die ich niemals bei mir selbst entdecken wollte.

willkommen im chat! suche dir einen nick-name!

Ich nahm wieder „Penthesilea“ - warum sollte ich mir etwas anderes ausdenken?
Dieses Mal versuchte ich es im chatcafè. Ich fand es passend zur Tageszeit.

Coolhasi15
funnygirl
Votanssohn

waren im Raum.

Penthesilea: Hallo!
Coolhasi15: hi Penthiselea - komischer nick
Funnygirl: hi pen
Votanssohn: arrrrggg

Was bedeutete arrrggg? Na, egal.

Coolhasi15: ferien sind sooooo laaaangweilig
Funnygirl: wir haben klasse schnee
Coolhasi15: wo kommste denn her?
Funnygirl: aus bayern - und du?
Votanssohn: bayern arrrggg

Votans Sohn hatte offenbar einen stark eingeschränkten Wortschatz.

Coolhasi15: aus erfurt
Votanssohn: war bei euch das wo der typ rumgemacht hat?
Coolhasi15: ja, aber nicht in meiner Schule
Funnygirl: hast glück gehabt, cooles hasi *g
wildgoosemann: betritt den raum

Wildgänsemann. Das hörte sich schön an. Wahrscheinlich ein Naturfreund, ein Grüner oder ein Vogelschützer. Da gab es doch einen Mann, der die Wildgänse erforschte. Hatten wir mal in Biologie. Der brütete die Eier aus und die frisch geschlüpften Küken liefen hinter ihm her wie hinter der eigenen Gänsemutter. Konrad Lorenz hieß er, jetzt fiel es mir wieder ein.

Penthesilea: hallo Konrad Lorenz
wildgoosemann: hallo Amazone - zuviel der Ehre *fg
Votanssohn: grrrrrr

Na sieh an, der Junge hatte noch eine weitere Variante drauf.

Penthesilea: Hast du wirklich etwas mit Gänsen zu tun?
wildgooseman: nein, ich habe mal ein Gedicht über Wildgänse gemacht, da fiel mir dieser nick ein
Votanssohn: Gedichte – arrrrggg
Coolhasi15: schreibste hier im forum?
wildgooseman: ja
funnygirl: stark, da gehe ich gleich mal gucken
Penthesilea: was ist denn ein forum?
Funnygirl: klick links in der blauen Leiste

Die blaue Leiste - richtig. Das stand es ja: Besucher, Chaträume, Foren. Ich klickte auf Foren. Es öffnete sich eine Liste.

Allgemeines
Bücher
Freundschaft und Liebe
Kontakte
Gesellschaft und Politik
Gedichte und Selbstgeschriebenes

Das Forum war unterteilt in Prosatexte, Gedichte und Liebesgedichte. Nach Liebesgedichten war mir heute nicht zumute. Also Gedichte. Die Seite hatte drei Spalten. In der ersten stand der Titel des Gedichts, in der zweiten der nick des Schreibers, in der dritten das Datum und die Uhrzeit, zu der es eingestellt worden war. Ich zählte ab. 18 Gedichte allein an diesem Tag! Ich fuhr mit dem cursor die nicks entlang. Wildgooseman war nicht zu finden, jedenfalls in diesem und dem vergangenen Monat nicht. „luna**“ kam ziemlich häufig vor. Ich klickte sein neuestes Gedicht an.

Wir, die den Weg schon betreten haben
Fragen nicht nach seinem Ziel
Blind eilen wir voran
Schon rückt das Ende näher
Selbst jetzt kein Warum
In unseren Augen
Nicht die Frage nach dem Sinn
Auf unseren Lippen
Unsere Zeit läuft ab
Und wir selbst
Haben die Uhr gestellt

Ich verstehe nicht viel von Gedichten. Wenn ich ehrlich bin: eigentlich gar nichts. Aber dieses hier gefiel mir. „Fantasie2“ war der nächste nick in der Reihe.

Ich schaue in den Nachthimmel hinauf
Und die Dinge nehmen ihren Lauf.
Was Lukas und Kathi machen, will ich nicht wissen,
ich würde den Mistkerl nur noch mehr vermissen.
Tränen laufen mir übers Gesicht.
Ist es Lukas, meine Mutter oder die Einsamkeit?
Ich weiß es nicht.
Durch meine Haare bläst der kühle Wind,
ich sehe Personen, wo keine sind.
Ich fall in einen Traum
und vergesse Zeit und Raum.
Sehe mich glücklich lachen
und verrückte Dinge machen,
ziehe mit Freunden durch die Straßen,
die mein altes Ich vergaßen.....

Lukas - da stand wirklich Lukas! Lukas und Kathi - Lukas und Paula - Lukas und Laura - Lukas und Tanja - das war alles möglich. Nur Lukas und Anna - das war unmöglich.

Die Türglocke! Das war garantiert meine Mutter. Sie klingelt immer, auch wenn sie den Schlüssel in der Tasche hat. Ich loggte aus und öffnete.
Es war nicht meine Mutter. Es war ein Bote von Pizza-Flizza.
Ich habe nichts bestellt, sagte ich und wollte die Tür schließen, aber er war schneller und stellte einen Fuß dazwischen.
Was fällt dir ein?, fauchte ich. Wenn du nicht sofort den Fuß da weg nimmst, kann dein Arzt schon mal den Gips anrühren.
Warum so krötig, sagte er und zwinkerte mir mit wirklich bemerkenswerten braunen Augen zu, wer wird denn einen Menschen zum Krüppel machen, der warmes Essen und kühlen Wein bringt?
Ich habe nichts bestellt, wiederholte ich, und wenn du das Rotkäppchen persönlich wärest.
Halt mal! Er drückte mir die Pizzaschachteln in die Hand. Hier ist der Auftragszettel: Eine Pizza funghi, eine Pizza Frutti di Mare, eine Flasche Lambrusco für Annemarie Frederes, Untere Gasse 12. Bist du die Tochter?
Leider, sagte ich. Was kostet das Zeug?
Er nannte den Preis.
Das ist zu teuer. Ich kann nicht mehr als 10 Euro bezahlen.
Dann vergessen wir den Lambrusco sagte er, war eben ein Irrtum. Ich nehme ihn wieder zurück.
Ich holte das Geld aus meiner Jackentasche. Ein Hoch auf die alte Dame aus der Katzfeystraße. Na ja - wie gewonnen, so zerronnen.
Der Pizzabote gab mir zwei Euromünzen zurück. Ob ich ihm ein Trinkgeld geben musste? Ich hielt ihm eine der Münzen hin.
Lass mal, sagte er, ein Lächeln genügt.

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