Weihnachtsferien - wer denkt sich
so etwas aus?
Ich hatte meine Tour mit dem „Wochenspiegel“ gerade hinter mich
gebracht. Der einzige Vorteil dieser toten Zeit ist es, dass ich nicht
so viele Werbebeilagen in die Zeitungen einsortieren muss wie vor dem
Fest. Da waren es manchmal so viele, dass sie mehr wogen als das ganze
Anzeigenblatt. Mein Bezirk ist unbeliebt unter den Zeitungsboten.
Deshalb machte es auch keine Mühe, ihn zu bekommen. Er liegt am Hang
des Uhlenberg, dem einzigen grünen, unverschandelten Bezirk unserer
Stadt. Dort gibt es keine Hochhäuser und überhaupt nur wenige
Mietwohnungen. Den größten Teil der Haushalte machen freistehende
Einfamilien- oder Doppelhäuser aus. Eine Pest! Viele von ihnen haben
lange Vorgärten, oft mit Treppen oder Auffahrtsrampen für die Autos.
So wie bei den Plettenbergs. Dort hatte ich auch gerade eine Zeitung in
den Briefkasten gesteckt. Lukas - besser nicht dran denken.
Dann denke ich lieber an die Frau aus der Katzfeystraße 3, die immer
schon auf mich und dieses kostenlos verteilte Anzeigenblatt wartet. Sie
wird in diesem Jahr 85, hat sie mir erzählt, und sie liest als erstes
immer die Todesanzeigen. Heute hat sie mir einen Schein in die Hand gedrückt
und mir ein gutes neues Jahr gewünscht. Zehn Euro - möge sie noch
lange fremde Todesanzeigen lesen können!
Wenn ich den Werbefuzzis aus dem Fernsehen traue, sollte ich um diese
weihnachtliche Nachmittagszeit mit der Familie bei Pfeffernüssen,
Stollen und Jacobs-Kaffee am Wohnzimmertisch sitzen bei stimmungsvoller
Musik und mit brennenden Kerzen an der zimmerhohen Edeltanne. Ob es so
etwas wirklich gibt? Als ich nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Küchentisch:
„Bin gegen 8 Uhr zurück. Annemarie“
Ich setzte mich an den Computer und loggte mich in den chat ein. Was hätte
ich sonst tun sollen? Lesen? Musik hören? Ich fühlte mich so
schrecklich müde. Aber Schlaf am Tag war gefährlich. Das wusste ich.
Das war eines der Alarmzeichen, die ich niemals bei mir selbst entdecken
wollte.
willkommen
im chat! suche dir einen nick-name!
Ich nahm wieder
„Penthesilea“ - warum sollte ich mir etwas anderes ausdenken?
Dieses Mal versuchte ich es im chatcafè. Ich fand es passend zur
Tageszeit.
Coolhasi15
funnygirl
Votanssohn
waren im Raum.
Penthesilea:
Hallo!
Coolhasi15: hi Penthiselea - komischer nick
Funnygirl: hi pen
Votanssohn: arrrrggg
Was bedeutete arrrggg? Na, egal.
Coolhasi15:
ferien sind sooooo laaaangweilig
Funnygirl: wir haben klasse schnee
Coolhasi15: wo kommste denn her?
Funnygirl: aus bayern - und du?
Votanssohn: bayern arrrggg
Votans Sohn hatte offenbar einen
stark eingeschränkten Wortschatz.
Coolhasi15:
aus erfurt
Votanssohn: war bei euch das wo der typ rumgemacht hat?
Coolhasi15: ja, aber nicht in meiner Schule
Funnygirl: hast glück gehabt, cooles hasi *g
wildgoosemann: betritt den raum
Wildgänsemann. Das hörte sich schön
an. Wahrscheinlich ein Naturfreund, ein Grüner oder ein Vogelschützer.
Da gab es doch einen Mann, der die Wildgänse erforschte. Hatten wir mal
in Biologie. Der brütete die Eier aus und die frisch geschlüpften Küken
liefen hinter ihm her wie hinter der eigenen Gänsemutter. Konrad Lorenz
hieß er, jetzt fiel es mir wieder ein.
Penthesilea:
hallo Konrad Lorenz
wildgoosemann: hallo Amazone - zuviel der Ehre *fg
Votanssohn: grrrrrr
Na sieh an, der Junge hatte noch
eine weitere Variante drauf.
Penthesilea:
Hast du wirklich etwas mit Gänsen zu tun?
wildgooseman: nein, ich habe mal ein Gedicht über Wildgänse gemacht,
da fiel mir dieser nick ein
Votanssohn: Gedichte – arrrrggg
Coolhasi15: schreibste hier im forum?
wildgooseman: ja
funnygirl: stark, da gehe ich gleich mal gucken
Penthesilea: was ist denn ein forum?
Funnygirl: klick links in der blauen Leiste
Die blaue Leiste - richtig. Das
stand es ja: Besucher, Chaträume, Foren. Ich klickte auf Foren. Es öffnete
sich eine Liste.
Allgemeines
Bücher
Freundschaft und Liebe
Kontakte
Gesellschaft und Politik
Gedichte und Selbstgeschriebenes
Das Forum war unterteilt in
Prosatexte, Gedichte und Liebesgedichte. Nach Liebesgedichten war mir
heute nicht zumute. Also Gedichte. Die Seite hatte drei Spalten. In der
ersten stand der Titel des Gedichts, in der zweiten der nick des
Schreibers, in der dritten das Datum und die Uhrzeit, zu der es
eingestellt worden war. Ich zählte ab. 18 Gedichte allein an diesem
Tag! Ich fuhr mit dem cursor die nicks entlang. Wildgooseman war nicht
zu finden, jedenfalls in diesem und dem vergangenen Monat nicht.
„luna**“ kam ziemlich häufig vor. Ich klickte sein neuestes
Gedicht an.
Ich verstehe nicht viel von
Gedichten. Wenn ich ehrlich bin: eigentlich gar nichts. Aber dieses hier
gefiel mir. „Fantasie2“ war der nächste nick in der Reihe.
Ich schaue
in den Nachthimmel hinauf
Und die Dinge nehmen ihren Lauf.
Was Lukas und Kathi machen, will ich nicht wissen,
ich würde den Mistkerl nur noch mehr vermissen.
Tränen laufen mir übers Gesicht.
Ist es Lukas, meine Mutter oder die Einsamkeit?
Ich weiß es nicht.
Durch meine Haare bläst der kühle Wind,
ich sehe Personen, wo keine sind.
Ich fall in einen Traum
und vergesse Zeit und Raum.
Sehe mich glücklich lachen
und verrückte Dinge machen,
ziehe mit Freunden durch die Straßen,
die mein altes Ich vergaßen.....
Lukas - da stand wirklich Lukas!
Lukas und Kathi - Lukas und Paula - Lukas und Laura - Lukas und Tanja -
das war alles möglich. Nur Lukas und Anna - das war unmöglich.
Die Türglocke! Das war garantiert
meine Mutter. Sie klingelt immer, auch wenn sie den Schlüssel in der
Tasche hat. Ich loggte aus und öffnete.
Es war nicht meine Mutter. Es war ein Bote von Pizza-Flizza.
Ich habe nichts bestellt, sagte ich und wollte die Tür schließen, aber
er war schneller und stellte einen Fuß dazwischen.
Was fällt dir ein?, fauchte ich. Wenn du nicht sofort den Fuß da weg
nimmst, kann dein Arzt schon mal den Gips anrühren.
Warum so krötig, sagte er und zwinkerte mir mit wirklich
bemerkenswerten braunen Augen zu, wer wird denn einen Menschen zum Krüppel
machen, der warmes Essen und kühlen Wein bringt?
Ich habe nichts bestellt, wiederholte ich, und wenn du das Rotkäppchen
persönlich wärest.
Halt mal! Er drückte mir die Pizzaschachteln in die Hand. Hier ist der
Auftragszettel: Eine Pizza funghi, eine Pizza Frutti di Mare, eine
Flasche Lambrusco für Annemarie Frederes, Untere Gasse 12. Bist du die
Tochter?
Leider, sagte ich. Was kostet das Zeug?
Er nannte den Preis.
Das ist zu teuer. Ich kann nicht mehr als 10 Euro bezahlen.
Dann vergessen wir den Lambrusco sagte er, war eben ein Irrtum. Ich
nehme ihn wieder zurück.
Ich holte das Geld aus meiner Jackentasche. Ein Hoch auf die alte Dame
aus der Katzfeystraße. Na ja - wie gewonnen, so zerronnen.
Der Pizzabote gab mir zwei Euromünzen zurück. Ob ich ihm ein Trinkgeld
geben musste? Ich hielt ihm eine der Münzen hin.
Lass mal, sagte er, ein Lächeln genügt.