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Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 5

 

Ruhe! Bitte einen Moment Ruhe, Leute!
Zwerg Nase konnte sich einfach nicht durchsetzen. Seine Englisch- und Geographiestunden waren eine Quälerei für alle Beteiligten und endeten regelmäßig im Chaos. Vom ersten Tag an hatte Egon Büttner die Weichen falsch gestellt. Er wollte ein fairer Partner seiner Schüler sein, das hatte er sich fest vorgenommen. Er träumte davon, für sie so etwas wie ein erfahrener älterer Bruder zu sein, vielleicht sogar ein Freund. Er wollte sie nicht mit Noten unter Druck setzen, sie sollten ihn nicht fürchten, sondern ihm vertrauen¸ ihn mögen. Deshalb hatte er auf das Kumpel-Prinzip gesetzt, auf die Nennt-mich-Egon-Masche, ein Fehler, den er nicht mehr korrigieren konnte. Sein Ruf an der Schule war zementiert, und sein Spitzname wurde von Klasse zu Klasse weitergegeben. Zwerg Nase - das war eine brutal genaue Beschreibung der äußeren Erscheinung Egon Büttners. Jeder neue Jahrgang erfuhr davon über die Buschtrommeln in der Stadt oder auf dem Schulhof: Zwerg Nase ist ein Weichei. In seinem Unterricht kann man quatschen, Skat spielen, sms-Nachrichten checken oder Hausaufgaben machen. Befriedigend ist seine schlechteste Note.

Anna seufzte. Der Mann tat ihr leid, aber er machte sie auch wütend. Er würde es nie kapieren. Jetzt schwenkte er einen Stapel Blätter über seinem hochroten Kopf hin und her.
Ruhe!, schrie er mit überkippender Stimme. Ruhe, oder ich teile die Anmeldungen nicht aus!
Ja, dann mach das doch endlich!, dachte Anna. Pack das Zeug ein und verlass den Klassenraum. Es hat geklingelt, die Stunde ist zu Ende. Das nächste Mal werden sie die Klappe halten. An der Anmeldung für die Skiferien sind doch alle interessiert. Alle außer mir.
Egon Büttner gab auf. Bedrängt von Thommy und Frederik, die ihn beide um mehr als eine Kopflänge überragten, wollte er mit der Verteilung der Zettel beginnen, aber Thommy riss ihm schon den größten Teil des Stapels aus der Hand und reichte ihn nach hinten weiter.
Egon Büttner legte den Rest auf ein Pult in der ersten Reihe und ging hinaus.

Hier nimm!
Laura schob ihr zwei Blätter zu. Das erste war die verbindliche Anmeldung, auf dem zweiten gab es Informationen über Abfahrts- und Ankunftszeiten, eine Aufstellung der Kosten, Empfehlungen für Kleidung, Sonnenschutz und Taschengeld, Erinnerung an Reisepapiere und Krankenschein, die Anschrift der Jugendherberge mit Telefonnummer, Faxanschluss und e-mail-Adresse.
Anna schob die Blätter achtlos in ihre Tasche.
Tschüs, bis morgen, sagte sie.
Warte mal! Laura holte sie auf dem ersten Treppenabsatz ein.
Paula, Tanja und ich wollen unbedingt zusammen wohnen. Es gibt aber nur Zweier-, Vierer- und Zehnerzimmer in der Jugendherberge. Willst du nicht das vierte Bett übernehmen?
Danke für das Angebot, sagte Anna und schluckte krampfhaft. Ich fahre wahrscheinlich gar nicht mit.
Was? Du fährst nicht mit? Und warum nicht, wenn man fragen darf?
Anna hob die Schultern. Keine Lust, sagte sie.
Keine Lust - das war ein akzeptabler Grund. Das klang überlegen und gelangweilt und war viel besser, als zu sagen: Kein Geld. Über Geld sprach man nicht. Über Sex in allen erdenklichen Spielarten konnte man reden, das machten schon die Viertklässler. Aber nicht über Geld. Niemand sprach darüber.

Während sie auf den Autobus wartete, kramte Anna die beiden Blätter wieder heraus und studierte die Aufstellung der Kosten: Busfahrt, Unterbringung und Verpflegung, Liftgebühren, Tagesausflug zu den bayerischen Königsschlössern, Leihgebühren für Schuhe, Skier oder Snowboards, empfohlenes Taschengeld.
Die Summe war höher als der Betrag, den ihre Mutter und sie für einen ganzen Monat zur Verfügung hatten, nachdem Miete und Nebenkosten abgebucht waren.
Es ging einfach nicht. Sie hatte alles immer und immer wieder in Gedanken durchgespielt. Das Girokonto überziehen? Das machte ihre Mutter schon seit Jahren bis an die Grenze des Möglichen. Sie konnten froh sein, wenn der Geldautomat nicht wieder einmal die Karte einbehielt, weil auch noch der eingeräumte Überziehungskredit überschritten war. Oma fragen? Nicht bei so einer hohen Summe. Sie kam ja selbst kaum zurecht. Ihren Vater bitten? Anna hasste es, dass sich die Beziehung zu ihm in der letzten Zeit nur noch um Geld drehte.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Es ging einfach nicht. Sie würde eben zuhause bleiben und am Unterricht der Parallelklasse teilnehmen. Das war Vorschrift. Sie hatte sich bei Dr. Hirte danach erkundigt. Er gab in der Klasse Deutsch und Religion und war der gewählte Vertrauenslehrer für die Oberstufe. Natürlich hatte er sofort angeboten, den Förderverein der Schule einzuschalten.
Falls es nur ums Geld geht, Anna, hatte er gesagt, das ist doch kein Problem.
Kein Problem! Jedenfalls nicht für eine Lehrerfamilie mit zwei Gehältern, eigenem Haus, zwei Autos und einem Dalmatiner.
Ich wollte nur klären, ob ich zur Teilnahme verpflichtet bin, hatte Anna geantwortet. Ich habe persönliche Gründe, weshalb ich nicht mitfahren will.
Dr. Hirte glaubte ihr kein Wort, das sah sie ihm an.

Der 802 bog um die Ecke. Überfüllt wie immer. Anna kriegte kaum noch Luft. Der Mann neben ihr stank wie eine Kneipe am Morgen und die alte Frau mit dem fahrbaren Einkaufsroller, die an der nächsten Station einstieg, schaffte sich Platz, indem sie ihr das sperrige Gefährt entschlossen in die Kniekehlen rammte.
Ist doch immer das gleiche, sagte sie und funkelte Anna zornig an, immer mittags sind die Busse überfüllt mit Schülern.
Das verstehe ich gar nicht, grinste Anna, ausgerechnet um diese Zeit.

Zuhause angekommen, holte sie den Kartoffelauflauf aus dem Kühlschrank. Er war vom Vortag übrig geblieben und sah schon ziemlich eingetrocknet aus. In einem Becher fand sie noch einen kleinen Rest Sahne. Sie goss ihn über die harte Käsekruste und schob die Schüssel in die Mikrowelle. Das Gemüsefach war leer bis auf zwei völlig verschrumpelte Möhren und ein kleines Stück Sellerie. Na ja, musste auch so gehen.

Während die Zeituhr an der Mikrowelle tickte, stieg Anna in ihrem Zimmer auf einen Stuhl, holte die alte Hutschachtel vom Kleiderschrank herunter und kramte unter Ansichtskarten, Fotos, verschrumpelten Kastanien, Papierblumen, Programmen und sonstigem Krimskrams nach dem Schlüssel zu ihrer Geldkassette. Sie bewahrte ihn an ständig wechselnden Orten auf. Das hätte sie schon viel früher tun sollen.
Sie wusste bis auf den Cent genau, wie viel Geld sie hatte. Trotzdem nahm sie die rote Stahlkassette mit in die Küche, schloss sie auf, kippte den Inhalt auf den Tisch, legte Scheine und Münzen aufeinander und zählte nach. Sie seufzte. Der Betrag reichte für die Busfahrt, die Liftkarte und für das Taschengeld, wenn sie mit etwa der Hälfte der dafür empfohlenen Summe auskam. Und das würde sie. Blieben die großen Brocken: Unterkunft und Verpflegung, Tagesausflug und Leihgebühren.
Die Uhr der Mikrowelle klingelte. Anna holte den Auflauf heraus und nahm eine Gabel aus dem Schubfach. Die Käsekruste war immer noch hart. Sie schob sie beiseite und stocherte lustlos in darunter liegenden pampigen Masse.

Die Skireise gehörte zu den geheiligten Traditionen der Schule. Es gab nicht viele davon. Anna fielen eigentlich nur noch das Sportfest und die Karnevalsfete ein. Schon im April, also zehn Monate vor dem geplanten Reisetermin, gab es in der Aula einen Informationsabend für Eltern und Schüler. Herr Katschnig, der für das Oberstdorf-Projekt zuständige Sportlehrer, hielt einen Vortrag, in dem er den versammelten Bewohnern der rheinischen Tiefebene dringend zum Erlernen der „Lifetime-Sportart“ Skifahren riet. Dann führte er einen Film vor, den die Video-Arbeitsgemeinschaft aus den Fahrten der vergangenen Jahre zusammengeschnitten hatte und gab einen ungefähren Überblick über die zu erwartenden Kosten.
Danach strich er sich die sorgfältig gesträhnte und gegelte blonde Tolle aus der Stirn, wippte dynamisch auf den Zehenspitzen und sagte:
Irgendwelche Fragen oder Einwände? Probleme mit der Finanzierung?
Niemand meldete sich. Anna war froh, dass ihre Mutter mal wieder nicht mitgekommen war. Sie hätte sich auf jeden Fall zu Wort gemeldet.
Schon auf dem Heimweg wurde ihr klar, wie sie das Geld zusammenbringen konnte. Zeit genug dafür blieb ja. Sie brauchte einfach einen Job, irgend einen Nebenverdienst wie kellnern, babysitten, Hunde ausführen oder Zeitungen austragen. Am nächsten Morgen rief sie bei der Vertriebsabteilung des „Blickpunkt“ an und schon eine Woche später übernahm sie den Bezirk Uhlenberg. Als sie die Runde mit den kiloschweren Zeitungspaketen das erste mal hinter sich gebracht hatte, wusste sie, warum dieser Job so leicht zu bekommen war. Aber die Summe in der roten Kassette wuchs Monat für Monat, und das war das Wichtigste.
Im August gab es den ersten Rückschlag. Das Girokonto war bis zum Limit überzogen, Oma lag mit Gallensteinen in der Klinik, ihr Vater war in Urlaub gefahren, ohne den Unterhalt für den letzten Monat zu überweisen. Es blieb Anna gar nichts anderes übrig: Sie lieh ihrer Mutter einhundertfünfzig Euro gegen das feste Versprechen, ihr das Geld spätestens im Oktober zurückzuzahlen.
In der zweiten Septemberwoche streikte die Waschmaschine. Der türkische Mechaniker warf einen erschrockenen Blick auf das antike Stück und lehnte die Reparatur ab.
Das mache ich nicht, sagte er. Wird viel zu teuer. Ich habe eine erstklassig überholte gebrauchte Maschine im Angebot. Die hat mehr Schleudertouren, Wollwaschprogramm und ist sparsam mit Wasser.
Annas Mutter handelte ihm noch 20 Euro für die alte Maschine ab.
Schöne Frauen, sagte der Mechaniker und kratzte sich den Kopf , da mache ich immer Verluste.
Anfang November kam die dritte Mahnung der Elektrizitätswerke mit der Androhung eines gerichtlichen Einzugsverfahrens. Ihre Mutter steckte sie zu den anderen Rechnungen in den Briefständer. Pünktlich zum Nikolaustag erschien der Gerichtsvollzieher. Anna war in der Schule. Während sich der Mann mit der Plastikaktentasche unter dem Arm im Wohnzimmer prüfend nach pfändbaren Gegenständen umsah, nahm Annas Mutter mit zitternden Fingern das Geld aus der roter Kassette.
Was sonst hätte sie tun sollen?

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