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Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 6

 

Mit halb aufgeknöpfter Jacke, den roten Wollschal noch um den Hals geschlungen, setzte er sich vor den Bildschirm. Seit er die flat-rate installiert hatte, schaltete er seinen Computer erst aus, wenn er schlafen ging. Das war selten vor zwei Uhr nachts. Er brauchte wenig Schlaf. Genauer gesagt: Er konnte nur noch wenige Stunden schlafen, wenn überhaupt. Morgens, bevor er das Haus verließ, fuhr er den PC wieder hoch, damit er beim Heimkommen sofort die e-mails, die neuen Beiträge im Forum und vor allem die Gespräche lesen konnte, die im Chatraum stattgefunden hatten.
Dieser Raum war ein unverhofftes, längst nicht mehr erwartetes Glück für ihn. Er war wie ein zweiten Leben und erwies sich als sehr viel besser als das reale. Der Preis für die Einrichtung eines eigenen Chatraums war nicht so hoch, wie er befürchtet hatte. Er war angenehm überrascht, als er die Summe erfuhr, er wäre bereit gewesen, ein Vielfaches dafür zu geben. Obwohl sie ihn bei jeder Beförderung übergangen hatten, verdiente er mehr als genug für einen allein lebenden Menschen. Seine Bedürfnisse waren im Laufe der Zeit immer geringer geworden. Er ging nicht aus, er legte weder Wert auf Kleidung noch auf gutes Essen. Jeans, T-Shirts, Pullover, Turnschuhe, ein Anorak für den Sommer und ein olivfarbener Winterparka - das genügte ihm. Größere Summen gab er nur für Bücher aus. Alle Wände des Zimmers, das er als Wohn-, Arbeits- und Schlafraum nutzte, waren bis unter die Decke mit Regalen vollgestellt. Bücher lagen in hohen Stapeln auf den Fensterbänken und Stühlen, bildeten wechselnde Türme auf dem Fußboden, bedeckten den Schreibtisch und die herausklappbare Platte des Schranks, die ihm als improvisierter Esstisch diente. Eine Putzfrau hatte er nicht mehr, konnte er auch nicht gebrauchen. Die letzte hatte mit der Bemerkung gekündigt: Wie soll ich dieses Wohngrab in Ordnung halten, wenn ich nichts anfassen darf? Jetzt wischte er selbst in großen Abständen den gröbsten Staub weg.
Die Auswahl an Fertiggerichten, die ein Tiefkühlservice ihm im Abstand von zwei Wochen lieferte, stellte ihn vollauf zufrieden. Jeden Mittag legte er eine der verschweißten Folienpackungen für ein paar Minuten in einen Topf mit kochendem Wasser, löffelte den lauwarmen Inhalt gleich aus der Plastikschale und hätte auf Nachfrage schon nach einer halben Stunde nicht mehr sagen können, was er gerade gegessen hatte.

Die banalen Begleiterscheinungen des Alltags spielten keine Rolle für ihn. Jetzt schon gar nicht mehr. Wichtig war nur noch eines: Er war der Administrator eines eigenen Chatraums! Lange hatte er nach einem passenden Namen gesucht und ihn schließlich einfach „SchülerInnenhilfe“ genannt. Das klang zwar phantasielos, aber eindeutig und drückte aus, worum es ihm ging. In kurzer Zeit wurde der Raum zur Anlaufstelle der Mühseligen und Beladenen, zur ersten Hilfe bei unlösbaren Hausaufgaben, zur letzten vor Klassenarbeiten und Klausuren, zum Punchingball für die Zornigen und zur Klagemauer für die Gescheiterten.
Die Veränderung seines Lebens durch den Chat kam ihm rückblickend wie ein Wunder vor. Ein gerade noch rechtzeitiges Wunder, denn es beendete die jahrelange Serie seiner nächtlichen Irrfahrten über Autobahnen und Landstraßen und reduzierte seinen ständig steigenden Verbrauch an Valium und Whisky.

Er hatte den Computer und das Internet spät und äußerst widerwillig zur Kenntnis nehmen müssen. Die meisten seiner Kollegen nutzten es längst und der zuständige Netzwerkadministrator sprach ihn bei jeder Gelegenheit darauf an. Aber ohne den entschiedenen Druck seines Chefs hätte er sich niemals dazu aufgerafft, den Einführungskurs in der Akademie Klausenhof zu besuchen. Zu seinem eigenen Erstaunen faszinierte ihn die Sache von Anfang an. Das Internet hatte auf ihn die gleiche Wirkung wie früher das vielbändige Lexikon im Bücherschrank seines Vaters - einmal darin gefangen, fand er nicht wieder hinaus. Er klickte sich von einer Seite zur anderen. Im Gegensatz zu den dunkelblauen Lederbänden seines Vaters verfügte das Internet nicht nur über Text, Bilder und Graphiken, sondern zusätzlich über Videofilme, Animationen, Tonbeispiele und interaktive Landkarten. Es bot ihm Informationen zu jedem denkbaren Lebensbereich. Auch Bücher ließen sich dort bestellen. Er nahm es begeistert zur Kenntnis.

Den Chat entdeckte er eher zufällig, ein Kollege erwähnte ihn. Zu Beginn trieb er sich lustlos in einigen Foren und Räumen herum und beobachtete den Auftritt und Abgang der ständig wechselnden Besucher, verfolgte befremdet die busssssiiii-, hallölle- und knuuuuddel-Orgien, die sich in öder Abfolge auf dem Bildschirm abwechselten und studierte unverständliche Kürzel wie fg, thx und afk. Was faszinierte die Menschen hier so sehr, dass sie stundenlang online blieben? Er begriff es nicht. In den ersten Wochen schrieb er kein einziges Wort. Der nick, den er gewählt hatte, passte zu dieser selbst verordneten Stummheit. Er nannte sich „nonverbal“ - ohne Worte.
Als er schon fast das Interesse an diesem virtuellen Treffpunkt verloren hatte, passierte es. Er hatte sich in den Raum „Teens 16-18“ eingeklickt und verfolgte gelangweilt die Kabbeleien von TomXL, Biggi15, rednose und Silversurfer.

(MikeNRW betritt den Raum) 
MikeNRW: hilfe leutz!!!!! klassenarbeit!!! einer hier der was von mathe versteht?

Er tippte seinen ersten Beitrag ein. Es war wie ein Reflex.

nonverbal: Ja, ich. 
MikeNRW: super; kann ich mal dia?

So fing sein erster Chat an. 
Und so endete er: 

MikeNRW: bist echt ein cooler typ, endlich hab ich das gerafft, thx!
nonverbal: Freut micht.
MikeNRW: biste eigentlich w oder m?
nonverbal: Bitte?
MikeNRW: weiblich oder männlich 
nonverbal: Ist doch egal, oder? 
MikeNRW: stimmt. du könntest glatt lehrer werden, mann *fg 
nonverbal: Danke. 
MikeNRW: ich setz ich dich auf meine freundesliste, ok? ich bin der michael aus wuppertal 
nonverbal: Was ist eine Freundesliste? 

Michael erklärte es ihm. Zuerst musste man sich registrieren lassen. Das ging ganz einfach per e-mail. Man gab Namen, Anschrift, eigene mail-Adresse und die gewünschten nicks ein. Man konnte zwei davon registrieren lassen. Wozu, das war ihm damals noch nicht klar. Schon am nächsten Tag fand er die Bestätigung in seiner mailbox und erhielt ein persönliches Passwort. Dadurch waren seine nicks geschützt und konnten von niemandem sonst mehr benutzt werden. Als registrierter Benutzer konnte er jetzt eine Anzahl von ebenfalls registrierten nicks als Freunde abspeichern. Sie erschienen auf einer Leiste am rechten Bildschirmrand, sobald er den Chat betrat, und vor den Namen derjenigen, die online waren, leuchtete ein grüner Punkte auf. 

MikeNRW war der erste auf seiner Liste. 

Sie können bis zu 45 Freunde benennen, stand in der Anleitung auf dem Bildschirm. 45 Freunde - was für ein Gedanke. In der Realität hatte er nicht einen einzigen. 

Inzwischen wurde der Platz auf seiner virtuellen Freundesliste bereits knapp. 

MikeNRW machte offenbar kräftig Werbung.

Schon am Abend nach seiner Registrierung klickte ihn der nächste an. 

batman4: hi non, verstehste auch was von englisch?
nonverbal: Ja.
batman4: sagt dir king lear was?
nonverbal: Klar. 
batman4: supi - kann ich ins dia?

Von da an wurden es fast täglich mehr. Es funktionierte offenbar wie ein Schneeballsystem, einer sagte es dem anderen. Wenn er nachhause kam, warteten schon die ersten Hilferufe in seiner mailbox. Vieles wusste er noch auf Anhieb, manches musste er sich erst selbst wieder aneignen. Er schlug in Büchern nach, recherchierte im Netz und besorgte sich aktuelles Material, vor allem für Physik, Chemie und Biologie. Er entdeckte von neuem das Vergnügen des Lernens. Und er fand zum ersten Mal Freude am Lehren. 

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