Es
hatte sich offenbar rasch herumgesprochen. Donnerstags hatte Zwerg Nase
die Anmeldungen ausgeteilt, am Freitagmorgen wartete Lukas an der Straßenecke
auf mich. Es war schneidend kalt, aber das Verdeck seines silbergrauen
Cabrios war offen wie immer. Er trug eine Lammfelljacke und eine eng
anliegende Lederkappe, die Stirn und Ohren bedeckte und unter dem Kinn
mit einem Riemen festgezurrt wurde. Er sah aus wie ein Darsteller aus
dem Film „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“. Nein,
er sah noch viel besser aus. Leider.
Steig ein, Anna, sagte er, ich nehme dich mit zur Schule.
Vor der verpfuschten Silvesterfete hätte ich für diesen Satz meine
Seele verpfändet. Aber jetzt nicht mehr. Oder doch? Die Clique und die
halbe Schule würden den Mund aufsperren, wenn sie uns zusammen ankommen
sähen. Und Paula würde ihren blauen Puppenaugen nicht trauen. Das
allein lohnte doch schon die Mühe.
Ich warf meine Tasche auf die schmale Rückbank und schwang mich so
elegant wie möglich auf den Beifahrersitz. Nicht ganz einfach. Das Gefährt
war so drastisch tiefer gelegt, dass ich das Gefühl hatte, mich auf den
Bordstein oder gleich auf die Straße zu setzen.
Lukas ließ den Motor aufheulen und legte einen fulminanten Blitzstart
hin.
Ich bin mit der Form meiner Nase übrigens ganz zufrieden, sagte ich.
Er grinste und nahm das Gas ein wenig zurück. Das Auto war ein Geschenk
seiner Eltern zu seinem 18. Geburtstag. In dem knappen halben Jahr, das
seither vergangen war, hatte er schon zwei Unfälle gebaut. Beim letzten
war er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt und hatte sich
das Nasenbein gebrochen. Unter dem Eindruck des ersten Schocks bestand
er darauf, dass mit ihm alles in Ordnung sei. Aber am nächsten Morgen
war die Nase eine blaurot verfärbte Knolle und als die Schwellung
abgeklungen war, sah man die Verdickung unterhalb der Nasenwurzel und
den leichten Schiefstand. Die Nase musste von einem plastischen
Chirurgen gerichtet werden.
Ich habe gehört, dass Du nicht mit nach Oberstdorf fährst, sagte er.
Stimmt das?
Sieht
ganz so aus.
Lukas machte eine Vollbremsung vor der Ampel. Ich stützte mich am
Armaturenbrett ab.
Eigentlich schade, sagte er, wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mal länger
mit dir zu quatschen.
Ich machte den Mund auf und wieder zu. Was sollte ich darauf antworten?
Seit wann hat er Lust mit mir zu reden und warum müssen wir dazu bis
nach Oberstdorf fahren, dachte ich. Aber ich sagte es nicht. Ich sagte
überhaupt nichts.
Lukas sah mich prüfend von der Seite an. Er wirkte plötzlich unsicher.
Die Ampel sprang auf Grün.
Magst du eigentlich Hunde?, fragte er
Wie bitte?
Ich dachte wirklich, ich hätte mich verhört. Was hatte diese Frage mit
der Skireise und unseren offenbar verpassten langen Gesprächen tun?
Könntest du für zehn Tage auf einen Hund aufpassen? Natürlich gegen
Bezahlung.
Kann ich nicht, sagte ich, wir wohnen in der dritten Etage und unser
Vermieter erlaubt keine Haustiere. Warum fragst du?
War nur so ein Gedanke, sagte Lukas. Vergiss es wieder, ok?
An
der nächsten Kreuzung bog der Linienbus vor uns auf die Kölner Straße
ein. Dem würden wir jetzt bis zu Schule hinterher zockeln müssen, denn
auf dieser stark befahrenen Straße gab es keine Chance zum Überholen.
Ein Junge mit blauer Bommelmütze, der auf der Rückbank des Busses
kniete, wischte mit seinem Jackenärmel die beschlagene Scheibe ab, drückte
sein Gesicht an das feuchte Glas und betrachtete uns und das rote Cabrio
so lange und so konzentriert, als wollte er eine Zeichnung davon machen.
Als ich ihm zulächelte, streckte er mir die Zunge heraus.
Ich mag diese rotzfrechen Knirpse, sagte Lukas. Mal sehen, wer länger
durchhält.
Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und bleckte die Zähne
wie eine fauchende Katze. Das Kerlchen beantwortete die Herausforderung
damit, ihm einen Vogel zu zeigen. Lukas revanchierte sich mit einer
langen Nase. Der Kleine schlug mit geballter Faust gegen die
Fensterscheibe. Lukas funktionierte seine Hände zu wedelnden Eselsohren
um. Der Kleine resignierte. Er streckte ohne große Überzeugung noch
einmal die Zunge heraus und drehte sich dann um.
Gewonnen, grinste Lukas, zweimal dasselbe gilt nicht.
Er
parkte sein Auto vor der Tennishalle. Von dort waren es nur ein paar
Meter bis zur Schule. Aber diese paar Meter waren spiegelglatt.
„Privatweg - kein Winterdienst“, hatte jemand mit roter Farbe auf
ein Holzschild geschrieben. Das war auch so klar genug. Überall sonst
war der Schnee längst verschwunden. Aber hier, im Schatten der Halle,
war er tagsüber angetaut, über Nacht wieder gefroren und überzog
jetzt die Waschbetonplatten mit einem wie karamellisiert glänzenden weiß-grauen
Belag. Schon beim Aussteigen rutschten mir die Füße weg, ich ließ
meine Tasche fallen und krallte mich mit beiden Händen an Lukas fest.
Häng dich ein, sagte er und klemmte sich meine Tasche unter den Arm.
Was hast du denn für blödsinnig glatte Schuhe an?
Kein Theaterregisseur hätte die Inszenierung besser hingekriegt: Als
wir in den trockenen, mit Split bestreuten Hennesweg einbogen, kam uns
ein ganzer Pulk von Schülern entgegen, an der Spitze Tanja, Tom und
Paula.
Ganz langsam ließ ich Lukas’ Arm los.
Danke fürs Mitnehmen, sagte ich und lächelte zu ihm hoch. Gibst du mir
jetzt meine Tasche wieder?
Paulas Kulleraugen waren so groß wie Untertassen.
Die
ersten beiden Stunden Englisch bei Zwerg Nase entgingen mir komplett.
Die Ausführungen über die Figur des Byron’schen Helden in ‚Ritter
Harolds Pilgerfahrt’ erlebte ich nur als Hintergrundrauschen.
Ich hatte an Wichtigeres zu denken. Ich musste eine Lösung für mein
Finanzproblem finden, denn jetzt wollte ich mit nach Oberstdorf.
Unbedingt! Bis zur Pause hatte ich eine Idee. Warum war ich nicht längst
darauf gekommen? Feli war der Schlüssel, sie würde sich etwas
einfallen lassen. Feli fiel immer was ein. Gleich nach der Schule würde
ich sie anrufen.
Nach der Pause hatten wir Deutsch bei Hirte, und jetzt rächte sich
meine geistige Abwesenheit, denn Hirte hatte mit Zwerg Nase ein
Epochen-Projekt vereinbart: „Spuren des Byronismus in der englischen
und deutschen Literatur der Romantik“. Wir hatten den Verdacht, dass
er damit dem Englischunterricht seines Kollegen mehr Aufwind geben
wollte. Hirte war eigentlich ein ganz umgänglicher Typ, hatte auch
Humor, aber er ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen und wenn er
ausflippte, dann wackelten die Wände.
Und da kam sie schon, die erste gefürchtete Frage: Wer fasst die beiden
vorangegangenen Englischstunden kurz zusammen?
Katrin und Nadine meldeten sich. Die beiden meldeten sich immer. Aber
Hirte kannte seine Pappenheimer. Er rief mit Vorliebe jemanden auf, der
verzweifelt angelegentlich aus dem Fenster oder in sein Buch schaute.
Ich versuchte es mit einem Bluff und hob auch die Hand.
Wie schön, Anna gibt uns die Ehre, sagte Dr. Hirte, also dann mal los!
Das Ergebnis war niederschmetternd.
Vermutlich liegt dir die Schriftform besser, sagte Hirte trocken und
nahm seine Brille ab. Sie hatte Gleitsichtgläser. Er trug sie noch
nicht lange und konnte sich offenbar schlecht daran gewöhnen.
Bis wann und wie viel, fragte ich resigniert.
Sagen wir bis übermorgen, Anna? Zwei DinA4-Seiten sollten reichen.
Zwei DinA4-Seiten? Woher sollte ich so viel Material nehmen? Ich musste
entweder jemanden aus der Klasse fragen oder im Internet suchen. Mist!
Das hatte mir noch gefehlt.
Tom, der auf der anderen Seite des Gangs saß, kritzelte etwas auf einen
Zettel. Als Hirte sich umdrehte, um die Namen Karl August von Platen und
Christian Dietrich Grabbe an die Tafel zu schreiben, drückte er mir das
zusammengefaltete Blatt in die Hand:
Klick mal „nonverbal“ im Raum „SchülerInnenhilfe“ an. Da wirst
du geholfen.
Danke, Tom, flüsterte ich.
Der
Vormittag zog sich wie Kaugummi. Endlich klingelte es zum Schluss der 6.
Stunde. Ich warf meine Sachen in die Tasche und lief los. Vielleicht
kriegte ich noch den früheren Bus. Ein kleiner Zwischensprint und ein
rasanter Endspurt - ich hatte es geschafft. Bevor die Tür sich schloss,
drängte sich noch jemand hinter mir in den Bus: Wolli.
Warum rennst du denn so?, keuchte er, ich wollte dir noch was sagen.
Der schnelle Lauf hatte ihn völlig außer Puste gebracht. Sein blasses
Gesicht war gerötet und in dem dunklen Flaum über seiner Oberlippe glänzten
Schweißperlen.
Ich habe in Englisch mitgeschrieben, sagte er.
Klasse! Leihst du es mir mal aus?
Meine Klaue kannst du garantiert nicht entziffern. Aber wir könnten uns
ja nachher auf ne Cola treffen. Dann diktiere ich es dir.
Nett von dir, Wolli, sagte ich, aber ich werde es erst mal im chat bei
der SchülerInnenhilfe versuchen. Ist ein Tipp von Tom. Wenn das nicht
klappt, melde ich mich bei dir, ok?
Ok, sagte Wolli.
Ich wusste selbst nicht, warum ich sein Angebot ausschlug. Natürlich
waren seine Aufzeichnungen näher am Unterrichtsstoff orientiert als
eine noch so gute fremde Auskunft es je sein konnte. Aber wie immer,
wenn Wolli in meiner Nähe war, fühlte ich mich bedrängt. Er war
freundlich, hilfsbereit, ein guter Kumpel, eigentlich der einzige in der
Klasse, auf den man immer zählen konnte. Aber wenn er mich ansah,
meinte ich in seinen großen, dunkel umschatteten Augen so etwas zu
sehen wie Hunger. Und ich wich ihm aus, wann immer es möglich war.
Zuhause
angekommen, rief ich als erstes bei Feli an. Ihre Mutter war am Apparat.
Tante Gerti war die älteste Schwester meines Vaters, ich mochte sie
sehr gerne. Bis zu meinem 16. Geburtstag verbrachte ich alle
Sommerferien bei ihr und Onkel Wilhelm. Sie hatten ein Speiserestaurant
in München-Laim. Ich schlief mit Feli in dem riesigen Zimmer mit den
Gaubenfenstern, das über das ganze Dachgeschoss reichte. Wir spielten
zerkratzte Schellack-Platten auf einem Grammophon mit riesigem
Schalltrichter, das wir im Keller gefunden hatten. Die Mühle im Walde,
Petersburger Schlittenfahrt und Auf einem persischen Markt hießen die
Titel, die wir am liebsten hörten. Das Grammophon musste mit einer
Handkurbel aufgezogen werden. Gegen Ende der Platte ließ die
Geschwindigkeit meistens nach. Dann wurde die Musik langsamer und immer
dunkler und die Stimmen der Sänger jaulten wie liebeskranke Katzen. Wir
zündeten Kerzen und Räucherstäbchen an, spielten Scrabble, lasen uns
Gedichte vor und erzählten uns Gruselgeschichten. Im letzten Jahr
stibitzte Feli für uns an jedem Abend eine angebrochene Flasche Rotwein
aus dem Lokal. Dann lagen wir in unseren Betten, tranken, rauchten,
redeten, hörten Musik und schliefen traumlos und sehr lange. Morgens
legten wir die Flaschen unauffällig zum Leergut. Dachten wir
jedenfalls. Bis Tante Gerti eines Abends sagte: Hier ist noch ein Rest
von der Riesling Spätlese. Probiert die mal, ihr Banausen. Und merkt
euch: Heimliches Trinken ist der Anfang vom Ende.
Hallo
Tante Gerti! Hier ist Anna. Wie geht es euch?
Gut! Viel zu gut, Anna. Wir haben jetzt auch Mittags geöffnet und jeden
Tag die Bude rappelvoll. Unser Erfolg bringt uns noch um.
Sie lachte.
Du, ich muss los, der Kerl an Tisch 7 schnippt schon wieder mit den
Fingern. Soll ich dich mit der Feli verbinden?
Ja, mach das! Und schöne Grüße an Onkel Willi!
Komm bald mal wieder nach München, Anna.
Mache ich!
Feli
ließ mich gar nicht erst ausreden.
Du kannst bei uns kellnern, sagte sie.
Habe ich noch nie gemacht.
Dann lernst du es eben. Ich bringe es dir bei. Uns fehlt jetzt schon
Personal an allen Ecken und Enden und in ein paar Wochen geht die
Michaela in Mutterschutz. Du kommst in den Osterferien, das passt
wunderbar, denn für die Feiertage und zum Weißen Sonntag sind wir
jetzt schon komplett ausgebucht. Ich handle einen guten Stundenlohn für
dich aus, lass mich nur machen. Außerdem haben wir dann endlich mal
Zeit, unser bewegtes Liebesleben zu diskutieren.
Wird ne ziemlich einseitige Unterhaltung, sagte ich.
Was?? Feli klang ehrlich entsetzt. Nichts los bei dir? Haben die Preußen
keine Augen im Kopf? Noch ein Grund mehr, nach München zu kommen.
Du, Feli, sagte ich, das Problem ist: Ich brauche das Geld schon jetzt.
Na und? Dann brauchst du eben einen Vorschuss. Wie viel soll es denn
sein?
Wenn ich das Zeitungsgeld für diesen und den nächsten Monat einrechne,
fehlen mir ungefähr 170 Euro.
Warte einen Moment, sagte Feli, ich spring’ mal kurz zu Vati in die Küche.
Es dauerte nur wenige Minuten.
Bin wieder da, sagte Feli. Es ist alles klar. Vati wird dir 200 überweisen.
Er lässt dich grüßen. Er ist heilfroh, dass du uns über Ostern aus
der Klemme hilfst.
Das war mal wieder typisch für Feli und ihre Familie. Ich hatte eine
peinliche Bitte ausgesprochen und sie bedankten sich für meine Hilfe.
Grüß deinen Vater, Feli, sagte ich, weißt du eigentlich, was für ein
Glück du mit ihm hast?
Ja, weiß ich. Aber sag es ihm nicht, sonst platzt er noch vor Stolz.
Noch was: Ich schicke dir ein paar von meinen Ski-Klamotten. Wir haben
ja die gleiche Größe. Wäre doch blöd, wenn du für die paar Tage
extra was kaufst, was du nachher nie mehr brauchst. Mein neuer Overall
ist wirklich ein starkes Teil, du wirst schon sehen.
Ski-Klamotten, sagte ich, daran habe ich noch gar nicht gedacht. So was
brauche ich auch nicht. Ich kann doch einfach meine Jeans und einen
Anorak anziehen, oder?
Nein, kannst du nicht, Cousinchen. Höre auf die Tochter der Berge. Wenn
du dich erst ein paar mal auf den Hosenboden gesetzt hast, weißt du
auch warum. Das normale Baumwollzeug nimmt nämlich zuviel Nässe auf.
Und jetzt muss ich los. Ich habe Musikunterricht.
Musikunterricht? Seit wann denn das und worin?
Seit zwei Monaten, sagte Feli, bei einem ganz süßen Typen. Ich lerne
Cello. Das ist das Geilste, das du dir denken kannst.