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Und hier ist die Fortsetzung:

 

Kapitel 7

 

Es hatte sich offenbar rasch herumgesprochen. Donnerstags hatte Zwerg Nase die Anmeldungen ausgeteilt, am Freitagmorgen wartete Lukas an der Straßenecke auf mich. Es war schneidend kalt, aber das Verdeck seines silbergrauen Cabrios war offen wie immer. Er trug eine Lammfelljacke und eine eng anliegende Lederkappe, die Stirn und Ohren bedeckte und unter dem Kinn mit einem Riemen festgezurrt wurde. Er sah aus wie ein Darsteller aus dem Film „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“. Nein, er sah noch viel besser aus. Leider.
Steig ein, Anna, sagte er, ich nehme dich mit zur Schule.
Vor der verpfuschten Silvesterfete hätte ich für diesen Satz meine Seele verpfändet. Aber jetzt nicht mehr. Oder doch? Die Clique und die halbe Schule würden den Mund aufsperren, wenn sie uns zusammen ankommen sähen. Und Paula würde ihren blauen Puppenaugen nicht trauen. Das allein lohnte doch schon die Mühe.
Ich warf meine Tasche auf die schmale Rückbank und schwang mich so elegant wie möglich auf den Beifahrersitz. Nicht ganz einfach. Das Gefährt war so drastisch tiefer gelegt, dass ich das Gefühl hatte, mich auf den Bordstein oder gleich auf die Straße zu setzen.
Lukas ließ den Motor aufheulen und legte einen fulminanten Blitzstart hin.
Ich bin mit der Form meiner Nase übrigens ganz zufrieden, sagte ich.
Er grinste und nahm das Gas ein wenig zurück. Das Auto war ein Geschenk seiner Eltern zu seinem 18. Geburtstag. In dem knappen halben Jahr, das seither vergangen war, hatte er schon zwei Unfälle gebaut. Beim letzten war er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt und hatte sich das Nasenbein gebrochen. Unter dem Eindruck des ersten Schocks bestand er darauf, dass mit ihm alles in Ordnung sei. Aber am nächsten Morgen war die Nase eine blaurot verfärbte Knolle und als die Schwellung abgeklungen war, sah man die Verdickung unterhalb der Nasenwurzel und den leichten Schiefstand. Die Nase musste von einem plastischen Chirurgen gerichtet werden.
Ich habe gehört, dass Du nicht mit nach Oberstdorf fährst, sagte er. Stimmt das? 

Sieht ganz so aus.
Lukas machte eine Vollbremsung vor der Ampel. Ich stützte mich am Armaturenbrett ab.
Eigentlich schade, sagte er, wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mal länger mit dir zu quatschen.
Ich machte den Mund auf und wieder zu. Was sollte ich darauf antworten? Seit wann hat er Lust mit mir zu reden und warum müssen wir dazu bis nach Oberstdorf fahren, dachte ich. Aber ich sagte es nicht. Ich sagte überhaupt nichts.
Lukas sah mich prüfend von der Seite an. Er wirkte plötzlich unsicher.
Die Ampel sprang auf Grün.
Magst du eigentlich Hunde?, fragte er
Wie bitte?
Ich dachte wirklich, ich hätte mich verhört. Was hatte diese Frage mit der Skireise und unseren offenbar verpassten langen Gesprächen tun?
Könntest du für zehn Tage auf einen Hund aufpassen? Natürlich gegen Bezahlung.
Kann ich nicht, sagte ich, wir wohnen in der dritten Etage und unser Vermieter erlaubt keine Haustiere. Warum fragst du?
War nur so ein Gedanke, sagte Lukas. Vergiss es wieder, ok?

An der nächsten Kreuzung bog der Linienbus vor uns auf die Kölner Straße ein. Dem würden wir jetzt bis zu Schule hinterher zockeln müssen, denn auf dieser stark befahrenen Straße gab es keine Chance zum Überholen. Ein Junge mit blauer Bommelmütze, der auf der Rückbank des Busses kniete, wischte mit seinem Jackenärmel die beschlagene Scheibe ab, drückte sein Gesicht an das feuchte Glas und betrachtete uns und das rote Cabrio so lange und so konzentriert, als wollte er eine Zeichnung davon machen.
Als ich ihm zulächelte, streckte er mir die Zunge heraus.
Ich mag diese rotzfrechen Knirpse, sagte Lukas. Mal sehen, wer länger durchhält.
Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und bleckte die Zähne wie eine fauchende Katze. Das Kerlchen beantwortete die Herausforderung damit, ihm einen Vogel zu zeigen. Lukas revanchierte sich mit einer langen Nase. Der Kleine schlug mit geballter Faust gegen die Fensterscheibe. Lukas funktionierte seine Hände zu wedelnden Eselsohren um. Der Kleine resignierte. Er streckte ohne große Überzeugung noch einmal die Zunge heraus und drehte sich dann um.
Gewonnen, grinste Lukas, zweimal dasselbe gilt nicht.

Er parkte sein Auto vor der Tennishalle. Von dort waren es nur ein paar Meter bis zur Schule. Aber diese paar Meter waren spiegelglatt. „Privatweg - kein Winterdienst“, hatte jemand mit roter Farbe auf ein Holzschild geschrieben. Das war auch so klar genug. Überall sonst war der Schnee längst verschwunden. Aber hier, im Schatten der Halle, war er tagsüber angetaut, über Nacht wieder gefroren und überzog jetzt die Waschbetonplatten mit einem wie karamellisiert glänzenden weiß-grauen Belag. Schon beim Aussteigen rutschten mir die Füße weg, ich ließ meine Tasche fallen und krallte mich mit beiden Händen an Lukas fest.
Häng dich ein, sagte er und klemmte sich meine Tasche unter den Arm. Was hast du denn für blödsinnig glatte Schuhe an?
Kein Theaterregisseur hätte die Inszenierung besser hingekriegt: Als wir in den trockenen, mit Split bestreuten Hennesweg einbogen, kam uns ein ganzer Pulk von Schülern entgegen, an der Spitze Tanja, Tom und Paula.
Ganz langsam ließ ich Lukas’ Arm los.
Danke fürs Mitnehmen, sagte ich und lächelte zu ihm hoch. Gibst du mir jetzt meine Tasche wieder?
Paulas Kulleraugen waren so groß wie Untertassen. 

Die ersten beiden Stunden Englisch bei Zwerg Nase entgingen mir komplett. Die Ausführungen über die Figur des Byron’schen Helden in ‚Ritter Harolds Pilgerfahrt’ erlebte ich nur als Hintergrundrauschen.
Ich hatte an Wichtigeres zu denken. Ich musste eine Lösung für mein Finanzproblem finden, denn jetzt wollte ich mit nach Oberstdorf. Unbedingt! Bis zur Pause hatte ich eine Idee. Warum war ich nicht längst darauf gekommen? Feli war der Schlüssel, sie würde sich etwas einfallen lassen. Feli fiel immer was ein. Gleich nach der Schule würde ich sie anrufen.
Nach der Pause hatten wir Deutsch bei Hirte, und jetzt rächte sich meine geistige Abwesenheit, denn Hirte hatte mit Zwerg Nase ein Epochen-Projekt vereinbart: „Spuren des Byronismus in der englischen und deutschen Literatur der Romantik“. Wir hatten den Verdacht, dass er damit dem Englischunterricht seines Kollegen mehr Aufwind geben wollte. Hirte war eigentlich ein ganz umgänglicher Typ, hatte auch Humor, aber er ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen und wenn er ausflippte, dann wackelten die Wände.
Und da kam sie schon, die erste gefürchtete Frage: Wer fasst die beiden vorangegangenen Englischstunden kurz zusammen?
Katrin und Nadine meldeten sich. Die beiden meldeten sich immer. Aber Hirte kannte seine Pappenheimer. Er rief mit Vorliebe jemanden auf, der verzweifelt angelegentlich aus dem Fenster oder in sein Buch schaute. Ich versuchte es mit einem Bluff und hob auch die Hand.
Wie schön, Anna gibt uns die Ehre, sagte Dr. Hirte, also dann mal los!
Das Ergebnis war niederschmetternd.
Vermutlich liegt dir die Schriftform besser, sagte Hirte trocken und nahm seine Brille ab. Sie hatte Gleitsichtgläser. Er trug sie noch nicht lange und konnte sich offenbar schlecht daran gewöhnen.
Bis wann und wie viel, fragte ich resigniert.
Sagen wir bis übermorgen, Anna? Zwei DinA4-Seiten sollten reichen.
Zwei DinA4-Seiten? Woher sollte ich so viel Material nehmen? Ich musste entweder jemanden aus der Klasse fragen oder im Internet suchen. Mist! Das hatte mir noch gefehlt.
Tom, der auf der anderen Seite des Gangs saß, kritzelte etwas auf einen Zettel. Als Hirte sich umdrehte, um die Namen Karl August von Platen und Christian Dietrich Grabbe an die Tafel zu schreiben, drückte er mir das zusammengefaltete Blatt in die Hand:
Klick mal „nonverbal“ im Raum „SchülerInnenhilfe“ an. Da wirst du geholfen.
Danke, Tom, flüsterte ich.

Der Vormittag zog sich wie Kaugummi. Endlich klingelte es zum Schluss der 6. Stunde. Ich warf meine Sachen in die Tasche und lief los. Vielleicht kriegte ich noch den früheren Bus. Ein kleiner Zwischensprint und ein rasanter Endspurt - ich hatte es geschafft. Bevor die Tür sich schloss, drängte sich noch jemand hinter mir in den Bus: Wolli.
Warum rennst du denn so?, keuchte er, ich wollte dir noch was sagen.
Der schnelle Lauf hatte ihn völlig außer Puste gebracht. Sein blasses Gesicht war gerötet und in dem dunklen Flaum über seiner Oberlippe glänzten Schweißperlen.
Ich habe in Englisch mitgeschrieben, sagte er.
Klasse! Leihst du es mir mal aus?
Meine Klaue kannst du garantiert nicht entziffern. Aber wir könnten uns ja nachher auf ne Cola treffen. Dann diktiere ich es dir.
Nett von dir, Wolli, sagte ich, aber ich werde es erst mal im chat bei der SchülerInnenhilfe versuchen. Ist ein Tipp von Tom. Wenn das nicht klappt, melde ich mich bei dir, ok?
Ok, sagte Wolli.
Ich wusste selbst nicht, warum ich sein Angebot ausschlug. Natürlich waren seine Aufzeichnungen näher am Unterrichtsstoff orientiert als eine noch so gute fremde Auskunft es je sein konnte. Aber wie immer, wenn Wolli in meiner Nähe war, fühlte ich mich bedrängt. Er war freundlich, hilfsbereit, ein guter Kumpel, eigentlich der einzige in der Klasse, auf den man immer zählen konnte. Aber wenn er mich ansah, meinte ich in seinen großen, dunkel umschatteten Augen so etwas zu sehen wie Hunger. Und ich wich ihm aus, wann immer es möglich war.

Zuhause angekommen, rief ich als erstes bei Feli an. Ihre Mutter war am Apparat. Tante Gerti war die älteste Schwester meines Vaters, ich mochte sie sehr gerne. Bis zu meinem 16. Geburtstag verbrachte ich alle Sommerferien bei ihr und Onkel Wilhelm. Sie hatten ein Speiserestaurant in München-Laim. Ich schlief mit Feli in dem riesigen Zimmer mit den Gaubenfenstern, das über das ganze Dachgeschoss reichte. Wir spielten zerkratzte Schellack-Platten auf einem Grammophon mit riesigem Schalltrichter, das wir im Keller gefunden hatten. Die Mühle im Walde, Petersburger Schlittenfahrt und Auf einem persischen Markt hießen die Titel, die wir am liebsten hörten. Das Grammophon musste mit einer Handkurbel aufgezogen werden. Gegen Ende der Platte ließ die Geschwindigkeit meistens nach. Dann wurde die Musik langsamer und immer dunkler und die Stimmen der Sänger jaulten wie liebeskranke Katzen. Wir zündeten Kerzen und Räucherstäbchen an, spielten Scrabble, lasen uns Gedichte vor und erzählten uns Gruselgeschichten. Im letzten Jahr stibitzte Feli für uns an jedem Abend eine angebrochene Flasche Rotwein aus dem Lokal. Dann lagen wir in unseren Betten, tranken, rauchten, redeten, hörten Musik und schliefen traumlos und sehr lange. Morgens legten wir die Flaschen unauffällig zum Leergut. Dachten wir jedenfalls. Bis Tante Gerti eines Abends sagte: Hier ist noch ein Rest von der Riesling Spätlese. Probiert die mal, ihr Banausen. Und merkt euch: Heimliches Trinken ist der Anfang vom Ende.

Hallo Tante Gerti! Hier ist Anna. Wie geht es euch?
Gut! Viel zu gut, Anna. Wir haben jetzt auch Mittags geöffnet und jeden Tag die Bude rappelvoll. Unser Erfolg bringt uns noch um.
Sie lachte.
Du, ich muss los, der Kerl an Tisch 7 schnippt schon wieder mit den Fingern. Soll ich dich mit der Feli verbinden?
Ja, mach das! Und schöne Grüße an Onkel Willi!
Komm bald mal wieder nach München, Anna.
Mache ich!
                                                                    

Feli ließ mich gar nicht erst ausreden.
Du kannst bei uns kellnern, sagte sie.
Habe ich noch nie gemacht.
Dann lernst du es eben. Ich bringe es dir bei. Uns fehlt jetzt schon Personal an allen Ecken und Enden und in ein paar Wochen geht die Michaela in Mutterschutz. Du kommst in den Osterferien, das passt wunderbar, denn für die Feiertage und zum Weißen Sonntag sind wir jetzt schon komplett ausgebucht. Ich handle einen guten Stundenlohn für dich aus, lass mich nur machen. Außerdem haben wir dann endlich mal Zeit, unser bewegtes Liebesleben zu diskutieren.
Wird ne ziemlich einseitige Unterhaltung, sagte ich.
Was?? Feli klang ehrlich entsetzt. Nichts los bei dir? Haben die Preußen keine Augen im Kopf? Noch ein Grund mehr, nach München zu kommen.
Du, Feli, sagte ich, das Problem ist: Ich brauche das Geld schon jetzt.
Na und? Dann brauchst du eben einen Vorschuss. Wie viel soll es denn sein?
Wenn ich das Zeitungsgeld für diesen und den nächsten Monat einrechne, fehlen mir ungefähr 170 Euro.
Warte einen Moment, sagte Feli, ich spring’ mal kurz zu Vati in die Küche.
Es dauerte nur wenige Minuten.
Bin wieder da, sagte Feli. Es ist alles klar. Vati wird dir 200 überweisen. Er lässt dich grüßen. Er ist heilfroh, dass du uns über Ostern aus der Klemme hilfst.
Das war mal wieder typisch für Feli und ihre Familie. Ich hatte eine peinliche Bitte ausgesprochen und sie bedankten sich für meine Hilfe.
Grüß deinen Vater, Feli, sagte ich, weißt du eigentlich, was für ein Glück du mit ihm hast?
Ja, weiß ich. Aber sag es ihm nicht, sonst platzt er noch vor Stolz. Noch was: Ich schicke dir ein paar von meinen Ski-Klamotten. Wir haben ja die gleiche Größe. Wäre doch blöd, wenn du für die paar Tage extra was kaufst, was du nachher nie mehr brauchst. Mein neuer Overall ist wirklich ein starkes Teil, du wirst schon sehen.
Ski-Klamotten, sagte ich, daran habe ich noch gar nicht gedacht. So was brauche ich auch nicht. Ich kann doch einfach meine Jeans und einen Anorak anziehen, oder?
Nein, kannst du nicht, Cousinchen. Höre auf die Tochter der Berge. Wenn du dich erst ein paar mal auf den Hosenboden gesetzt hast, weißt du auch warum. Das normale Baumwollzeug nimmt nämlich zuviel Nässe auf. Und jetzt muss ich los. Ich habe Musikunterricht.
Musikunterricht? Seit wann denn das und worin?
Seit zwei Monaten, sagte Feli, bei einem ganz süßen Typen. Ich lerne Cello. Das ist das Geilste, das du dir denken kannst.

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